Alexei Wenediktow: «Die Schweiz kann im Ukraine-Krieg nicht mehr vermitteln»
Der ehemalige Chefredaktor des russischen Radiosenders "Echo Moskwy", Alexei Wenediktow, informiert trotz der Drohungen weiterhin von Moskau aus die russische Bevölkerung über den Krieg. Die EU-Sanktionen und deren Übernahme durch die Schweiz hält er für kontraproduktiv.
Alle zu Wort kommen lassen, aber auch mit allen reden. Das ist das Motto des russischen Journalisten und ehemaligen Chefredaktors von «Echo Moskwy», Alexei Wenediktow.
Sein Radiosender, der sich lange der Repression widersetzen konnte, galt als eines der letzten unabhängigen Medien in Russland.
Doch am 3. März 2022, wenige Tage nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, wurde ihm ein Sendeverbot erteilt. Er hatte den Krieg kritisiert.
Alexei Wenediktow weilt im Moment in der Schweiz. Wir haben mit ihm gesprochen.
swissinfo.ch: Seitdem Ihr Radio geschlossen wurde, arbeiten Sie von Moskau aus über einen Youtube-Kanal weiter. Können Sie wirklich noch als unabhängiger Journalist arbeiten?
Alexei Wenediktow: Ja, der Krieg hat den Beruf von Journalist:innen ebenso wenig verändert wie den der Chirurg:innen oder Professor:innen. Vor, während und nach dem Krieg muss man erklären, analysieren und diskutieren.
Einen Monat nach Kriegsausbruch haben Sie vor Ihrer Wohnungstür einen Schweinekopf mit einer antisemitischen Aufschrift gefunden. Kürzlich hat Sie der Anführer der Privatarmee Wagner als «Feind» beschimpft. Ist Ihr Leben bedroht?
Ja, ich werde bedroht. Das ist nicht sehr angenehm, gehört aber zum Berufsrisiko.
In meinem Land ist mein Beruf ein Risiko. Also gehe ich das Risiko ein. Sonst müsste ich den Beruf wechseln, auswandern oder in Rente gehen, aber das will ich nicht.
Sie sind zurzeit in Europa. Haben Sie vor, hier zu bleiben?
Noch nicht. Ich schliesse nichts aus, denn die Bedrohungen nehmen zu. Aber solange ich in Moskau arbeiten kann, bleibe ich dort.
Sie werden von der russischen Justiz auf der Liste «ausländischer Agent:innen» geführt. Was bedeutet das konkret?
Ich darf zum Beispiel keine Vorträge halten, nicht an die Universität oder in die Schulen gehen und mit Studierenden sprechen.
Es gibt auch Leute, die Angst haben, mich zu kontaktieren, weil meine Kommunikation überwacht wird.
Ich prozessiere gegen das Justizministerium. Es ist ungerecht, mich als ausländischen Agenten zu bezeichnen. Ich weiss nicht einmal, für welches Land ich Agent sein soll. Das Leben ist hart.
Umgekehrt hat das Team des Oppositionspolitikers Alexei Nawalny Ihren Namen auf eine Liste «korrupter und kriegstreiberischer Beamter» gesetzt. Sie sollen dem Regime bei der Fälschung der Ergebnisse der elektronischen Stimmabgabe bei den Wahlen für die Staatsduma 2021 geholfen haben. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?
Das ist eine Lüge. Sie haben mich auf diese Liste gesetzt, weil ich investigativ arbeite.
Ich glaube, dass es im Umfeld von Alexei Nalwalny Leute gibt, die für den Staat arbeiten. Ich bin auf der Suche nach Dokumenten, die das beweisen.
Nach seiner Vergiftung und seiner Genesung in Deutschland im Jahr 2021 gab es Personen, die Alexei Nawalny sagten, er solle nach Russland zurückkehren. Und dies, obwohl man wusste, dass er bei seiner Rückkehr verhaftet werden würde.
Nawalny ist trotzdem zurückgekehrt. Jetzt sitzt er im Gefängnis. Er ist sehr krank, vielleicht stirbt er sogar.
Auf Ihrer Wikipedia-Seite steht, dass Sie Wladimir Putin bei den Präsidentschaftswahlen 2012 unterstützt haben. Ist das korrekt?
Das ist absolut falsch. Es gibt ein Dokument, aus dem hervorgeht, dass Wladimir Putin mich gebeten hat, ihn zu unterstützen. Von 300 Personen war ich der Einzige, der abgelehnt hat.
Aber Sie kennen Putin persönlich und haben ihn mehrmals getroffen. Vor seiner Wahl waren Sie mit ihm sogar per Du. Haben Sie noch Kontakt zu ihm oder zu Personen, die dem Kreml nahestehen?
Ich habe Wladimir Putin zuletzt im Januar 2021 gesehen. Ich habe eine Frage zur Verhaftung des Oppositionspolitikers Alexei Nawalny gestellt, die ihm natürlich nicht gefiel.
Ich spreche jedoch regelmässig mit seinem Pressesprecher und bitte ihn, diese oder jene Position zu kommentieren. Das ist meine Aufgabe.
Die Regierung beschuldigt Sie, ein Agent des Auslands zu sein, Teile der Opposition werfen Ihnen vor, zu nah an der Macht zu sein. Was stimmt nun?
Diese Anschuldigungen von beiden Seiten beweisen, dass ich meine Arbeit gut mache.
Journalist:innen müssen nicht mit einer bestimmten politischen Kraft befreundet sein, sie können Freunde in allen Parteien haben.
Der Sprecher von Präsident Wladimir Putin, Dmitri Peskow, ist zum Beispiel ein guter Freund von mir.
«Echo Moskwy» gelang es, mehreren Wellen der Repression standzuhalten. Mussten Sie dafür Kompromisse eingehen und eine gewisse Nähe zur Macht pflegen?
Natürlich mussten wir Kompromisse eingehen, aber nicht bei der redaktionellen Ausrichtung. Die hat sich in den letzten 23 Jahren nicht geändert.
Der Sender «Echo Moskwy» gehörte mehrheitlich dem staatsnahen Gazprom-Konzern. War es vor diesem Hintergrund möglich, journalistisch unabhängig zu bleiben?
Natürlich war es das. Journalistische Unabhängigkeit heisst nicht Unabhängigkeit vom Aktionariat.
Als Gazprom 2001 die Aktienmehrheit des Radiosenders übernahm, kamen alle Oppositionellen weiterhin zu uns, weil wir ein professionelles Radio waren. Wir haben immer alle zu Wort kommen lassen.
Aber ich habe einen Journalisten aus dem Gefängnis geholt, der fälschlicherweise des Drogenhandels beschuldigt wurde. Um ihn freizubekommen, musste ich mit dem Innenminister und anderen Offiziellen sprechen. Normalerweise ist das nicht Aufgabe eines Chefredaktors.
Der Journalist kam frei. Das ist die Art von Kompromiss, die ich eingegangen bin, damit die Menschen miteinander reden, anstatt sich gegenseitig umzubringen. In diesem Sinne bin und bleibe ich ein Mann des Kompromisses.
In einem kürzlich in der Financial Times erschienenen Artikel äusserten Sie Bedauern, den Krieg nicht kommen gesehen zu haben. Warum konnten Sie die Zeichen nicht deuten?
Ich habe Wladimir Putin an einer Pressekonferenz im Jahr 2013 gesagt, dass ich Anzeichen für eine stalinistische Entwicklung sehe. Er antwortete, ich sei verrückt.
Als Geschichtslehrer sah ich jedoch die Anzeichen: den Tschetschenienkrieg, den Georgienkrieg 2008, die Brutalität und die Selbstverliebtheit Putins.
Doch ich war der Meinung, die Korruption sei das grosse Laster dieses Regimes. Ich dachte, sie wollten Paläste, Jachten, Rolex. Einen Krieg? Unmöglich, sagte ich mir, denn sie wollen ja in Reichtum leben.
Ich habe mich geirrt: Das grosse Laster dieses Regimes ist der Imperialismus, der Revanchismus. Wir haben ihn nicht gesehen, weil er unter der Korruption verborgen war.
Wie informiert sich die russische Bevölkerung über die Geschehnisse in der Ukraine?
Heutzutage kann man sich überall im Internet informieren. Mangelnde Information ist nicht das Problem. Das Problem liegt darin, was man glaubt.
Das russische Volk glaubt, dass es seine Grösse verloren hat und Putin ihm zu neuem Glanz verhelfen wird. Deshalb wollen die Leute die Gräueltaten in diesem Krieg nicht sehen. Sie glauben nicht daran.
Sie sagen sich: Unsere tapferen Soldaten können keine Kinder töten, sie können keine Häuser bombardieren. Selbst diejenigen, die nahe Verwandte in der Ukraine haben, wollen es nicht glauben. Sie denken, das sei alles Propaganda. Sie glauben, dass die Ukraine selbst die eigenen Städte bombardiert.
Am ersten Tag der russischen Invasion in der Ukraine sagten Sie im Radio: «Wir haben den Krieg bereits verloren». Denken Sie das immer noch?
Ja, natürlich! Russland hat bereits verloren. Es hat zehntausende Soldaten und seinen internationalen Ruf verloren, der nicht wiederhergestellt werden kann.
Auch die Wirtschaft hat durch die Sanktionen verloren. Selbst wenn es einen militärischen Sieg gäbe, was würde uns das bringen? Ich sehe nur die Verluste.
Haben Sie den Eindruck, dass die Wirtschaftssanktionen gegen Russland Wirkung zeigen?
Die Sanktionen, die alle Menschen mit russischem Pass betreffen, sind unverständlich und kontraproduktiv.
Wenn man beispielsweise russische Sportler:innen von den Olympischen Spielen ausschliesst, auch wenn sie den Krieg nicht unterstützen, werden Unschuldige bestraft.
Man befindet sich in einer Logik der kollektiven Verantwortung, die der Logik von islamistischen Terrorist:innen entspricht.
Man muss sich dessen bewusst sein und die Konsequenzen kennen: Wladimir Putin nutzt das als Argument, der Westen sei gegen alle Russ:innen. Ich verstehe nicht, wie das zu einem Ende des Krieges führen soll.
Gibt es ein Ende des Konflikts?
Dieser Konflikt wird niemals enden. Vielleicht kann die militärische Phase gestoppt werden, aber ich sehe kein Ende dieses Krieges im weiteren Sinne.
Über 46 Milliarden Franken russischer Gelder liegen in der Schweiz. Tut die Schweiz genug, um die Machthaber in Russland zu bestrafen?
Die Schweiz handelt aus Solidarität mit der Ukraine und der westlichen Gemeinschaft. Voraussetzung für das Einfrieren von Konten oder Vermögen ist jedoch ein gerichtlicher Entscheid und nicht ein politischer.
Im Moment wird beschlagnahmt, bevor ein Gericht entschieden hat. Meiner Meinung nach sollte es umgekehrt sein.
Es wird ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen. Heute macht man es mit Russ:innen so, morgen mit Chines:innen und übermorgen mit anderen.
Ist die Schweiz Ihrer Meinung nach noch neutral, wenn sie die Sanktionen der Europäischen Union übernimmt?
Die Schweiz hat die Möglichkeit verloren, als Friedensvermittlerin aufzutreten. Früher konnte sie diese Rolle spielen.
Aber wo ist jetzt der Mediator zwischen Russland und dem Westen? Die Schweiz hat sich auf eine Seite geschlagen.
Letzte Frage: Wenn Sie Wladimir Putin heute noch einmal treffen würden, was würden Sie ihm sagen?
Ziehen Sie unsere Truppen aus der Ukraine ab! Sie haben einen Fehler gemacht.
Dann könnten wir über den Status der Krim reden, über Reparationen und so weiter.
Aber das Töten muss ein Ende haben. Wenn man schiesst, kann man nicht reden.
Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi
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