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Arbeitslose in Zeiten der Vollbeschäftigung stärker unter Druck

Ein Arbeitssuchender schaut sich die Anzeigen in der Zeitung an (Symbolbild)
Als arbeitslos gemeldete Personen stehen unter Druck, wieder eine Arbeit zu finden. Keystone / Laurent Gillieron

Die Schweiz verzeichnet derzeit eine Arbeitslosenquote von 2,2%. In mehreren Sektoren mangelt es an qualifiziertem Personal. Doch einige Menschen haben Schwierigkeiten, eine geeignete Stelle zu finden. Die regionalen Arbeitsvermittlungszentren setzen sie stark unter Druck.

Das gab es seit 20 Jahren nicht mehr: Laut dem vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) berechneten Jahresdurchschnitt 2022 herrscht in der Schweiz Vollbeschäftigung – im traditionellen, von der Internationalen Arbeitsorganisation anerkannten Sinn.

Doch trotz den guten Zahlen sind viele Menschen immer noch auf der Suche nach einem Job. Manchmal schon seit langer Zeit. Denn die Arbeitslosenstatistik berücksichtigt nur die Bezeichnung “arbeitslos”.

Es gebe aber noch andere Kategorien von Personen, die auf der Suche nach einer bezahlten Arbeit seien. Daran erinnerte der Präsident der Vereinigung zur Verteidigung der Arbeitslosen, Jeton Hoxha, in der Morgensendung des Westschweizer Fernsehens RTSExterner Link.

Lückenhafte Statistik

“Personen in Eingliederungsmassnahmen oder solche, die nur eine prekäre Beschäftigung haben – beispielsweise zu 20% – gelten in der Statistik des Seco nicht mehr als arbeitslos”, sagte Hoxha. Dennoch seien auch diese Personengruppen oft auf der Suche nach einer anderen Arbeit.

Viele, vor allem Frauen, würden auch als “nicht vermittlungsfähig” eingestuft. Dies, weil sie keine Kinderbetreuungsplätze oder Lösungen für die Kinderbetreuung gefunden hätten, betonte Hoxha weiter. Sie würden ebenfalls nicht in der Arbeitslosenstatistik vorkommen.

“Das ist trotzdem ein Problem”, so Hoxha. Denn wenn man Vollbeschäftigung anzeige, “suggeriert man der Bevölkerung, dass es keine Probleme und Arbeit für alle gibt. Obwohl das nicht der Fall ist”.

Erzwungene Neuorientierungen

Darüber hinaus herrscht in mehreren Sektoren ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, etwa im Gesundheitswesen, in der Gastronomie oder im Elektrizitätssektor.

Aber auch in anderen Bereichen ist es nicht so einfach, eine Arbeit zu finden. Mit diesem Ungleichgewicht müssen sich die regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) auseinandersetzen.

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In einem solchen Umfeld stehen arbeitslos gemeldete Personen besonders unter Druck, so schnell wie möglich wieder einen Job zu finden. Und manchmal sehen sie sich gezwungen, Stellen in Bereichen anzunehmen, die nicht ihrer Ausbildung entsprechen.

Tatsächlich können die RAV unter bestimmten Bedingungen von den Versicherten verlangen, dass sie sich beruflich neu orientieren. Besonders dann, wenn sie bereits seit mehreren Monaten erfolglos nach einem Job gesucht haben.

“Das RAV machte mir sehr wenige Angebote. Und schon sehr bald wurden mir andere Jobs angeboten, speziell Schulungen im medizinischen Bereich”, sagte eine Lausannerin gegenüber RTS. Sie sucht seit zwei Jahren eine Stelle als Kosmetikerin. In diesem Bereich werden nur sehr wenige offene Stellen angeboten.

“Am Anfang war ich nicht unbedingt dafür, weil ich wirklich etwas im Bereich Schönheitspflege finden wollte. Aber man weiss, dass man es sich nicht leisten kann, zu viel abzulehnen. Denn sonst wird dies als mangelnde Zusammenarbeit angesehen, und man wird ziemlich schnell sanktioniert”, bedauerte sie.

Gesetzliche Leitplanken

Für die Praktiken der RAV gibt es einen landesweiten gesetzlichen Rahmen. “Der Grundsatz des Gesetzes ist, dass eine versicherte Person jede Arbeit sofort annehmen muss, um die Arbeitslosigkeit zu verringern”, sagte Françoise Favre, Generaldirektorin für Beschäftigung und Arbeitsmarkt im Kanton Waadt, in der Sendung von RTS.

“Es sieht jedoch eine Reihe von Ausnahmen vor. Etwa, wenn der Lohn nicht den üblichen Gepflogenheiten entspricht, der Arbeitsort zu weit vom Wohnort entfernt ist oder die besonderen Bedingungen als unzumutbar erachtet werden.”

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Trotzdem “spürt man den Druck, um jeden Preis eine Arbeit anzunehmen”, sagte Hoxha. “Das hat zwei Ziele: Diese Menschen aus der Arbeitslosenstatistik herauszuholen und Arbeitsplätze in Sektoren zu besetzen, in denen eine hohe Nachfrage besteht.”

“Es herrscht eine Angst vor ständiger Sanktionierung. Ich sehe darin nicht allzu viel Hilfe, ich fühle mich nicht unterstützt”, sagte die Kosmetikerin aus Lausanne.

“Sobald sie sehen, dass wir kaum eine Chance haben, eine Stelle in unserem Bereich zu finden, bieten sie uns dieses und jedes an. Sogar Arbeiten, die absolut nicht passen. Es geht wirklich darum, so schnell wie möglich einen Brotjob für die Person zu finden – koste es, was es wolle.”

Derzeit sind in der Schweiz rund 97’000 Personen weiterhin offiziell als arbeitslos registriert.

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Gastgeber/Gastgeberin Samuel Jaberg

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Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

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