
Asbest-Drama definitiv vor Gericht

Der Schweizer Industrielle Stephan Schmidheiny muss sich ab Donnerstag in Turin vor dem Strafgericht für den Tod von Tausenden von Arbeitern verantworten. Mehrere hundert italienische Familien sind mittlerweile auf sein Entschädigungsangebot eingegangen.
Zum Prozessauftakt am Donnerstag werden tausende Menschen vor dem Palazzo di Giustizia von Turin erwartet. Das nationale Netzwerk für Sicherheit am Arbeitsplatz hat zu einer Demonstration aufgerufen.
Anreisen werden vor allem Angehörige von Asbestopfern. Sie haben Reisecars organisiert – etwa aus der piemontesischen Kleinstadt Casale Monferrato, wo bis 1986 eine der vier Fabriken der Eternit S.p.A. Genova stand.
1400 Personen sind allein im Umkreis dieser Gemeinde in den vergangenen Jahrzehnten an den Folgen von Asbeststaub gestorben. Rund 40 neue Fälle kommen jedes Jahr hinzu.
Das Drama hat noch kein Ende, da die Latenzzeit bei der typischen Asbestkrankheit Brustfellkrebs (Mestheliom) zwischen 20 und 40 Jahren beträgt.
Zwei Hauptanklagepunkte
Staatsanwalt Raffaele Guariniello klagt die beiden ehemaligen Mehrheitsaktionäre der italienischen Eternit S.p. A., den St. Galler Industriellen Stephan Schmidheiny und den Belgier Jean Louis Marie Ghislanie De Cartier, an, von den Asbestgefahren gewusst, aber nicht die nötigen Schutzvorkehrungen getroffen zu haben.
Die Anklage lautet auf Unterlassung von Sicherheitsmassnahmen und vorsätzliche Verursachung von schweren Unfällen. Im Falle eines Schuldspruchs drohen bis zu 13 Jahren Haft.
Vor Gericht zitiert wird Kraft seines Amtes auch der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi. Denn gegen den italienischen Staat wird wegen mangelnder Aufsichtspflicht in dieser Angelegenheit geklagt.
Als Nebenkläger in dem Mammut-Verfahren tritt zudem die italienische Versicherungsanstalt für Berufserkrankungen auf, die Schadenersatz von 246 Millionen Euro als Rückerstattung für erfolgte Entschädigungen fordert.
Gerechtigkeit für Opferfamilien
Der Prozess findet statt, nachdem die zuständige Untersuchungsrichterin Cristina Palmesino im Juli 2009 nach einer mehr als drei Monate dauernden Vorprüfung entschieden hatte, die Hauptverhandlung zuzulassen.
Rund 3000 Geschädigte und deren Angehörige sind als Zivilpartei an diesem Verfahren beteiligt, dessen Ausmass in der italienischen Justizgeschichte einmalig ist. Die Hauptverhandlung wird mindestens zwei bis drei Jahre dauern.
«Für die Opferfamilien und ihre Angehörigen ist es ein unglaublich wichtiger Moment», sagt die Zürcher Journalistin Maria Roselli, die in ihrem Buch «Die Asbestlüge, Geschichte und Gegenwart einer Industriekatastrophe» (2007) das Drama rund um die Produktion und tödlichen Folgen dieser Baufaser detailliert aufgearbeitet hat.
«Viele haben nicht mehr daran geglaubt, daher wird allein der Prozessbeginn als ein Stück Gerechtigkeit erlebt», so Roselli. Ähnlich äussern sich Vertreter diverser Opferhilfe-Organisationen.
Schmidheiny kommt nicht
Der 62-jährige Stephan Schmidheiny wird selber nicht vor dem Kadi erscheinen, wie sein italienischer Anwalt Astolfo Di Amato auf Anfrage erklärt. Die Verteidigung will die Unschuld des Schweizer Industriellen beweisen.
«Das Unternehmen hat zwischen 1976 und 1986 ganze 70 Milliarden Lire (70 Millionen Franken) in die Sicherheit gesteckt und nichts verdient: das zeigt die Buchhaltung klar auf», so Di Amato. Von einer Spekulation auf dem Rücken der Arbeiter könne keine Rede sein.
Peter Schürmann, Sprecher von Stephan Schmidheiny in der Schweiz, hält fest, dass dieser nie wirklich Besitzer war oder eine operative Funktion in den Eternit-Werken in Italien ausübte: «Der Prozess, so unverständlich er aus Sicht von Herrn Schmidheiny ist, hat immerhin ein Gutes: Dass er die Verantwortlichkeiten klärt, die die Grundlage der Vorwürfe gegen ihn bilden.»
Entschädigung teilweise angenommen
Schmidheiny hat im übrigen stets die These vertreten, dass die Asbestfrage ein «soziales Problem» sei und nicht im Sinne einer «individuellen Verantwortung» gelöst werden kann.
Im Vorfeld des Prozesses hatte der Schweizer Industrielle Opferfamilien eine Entschädigung von 60’000 Euro angeboten, wenn diese auf zivilrechtliche Schritte verzichten.
Angesichts der Tatsache, dass Prozesse in Italien ewig dauern und einen ungewissen Ausgang haben, sind viele Familien auf das Angebot eingegangen. Laut Schürmann sind es 700 Personen in Norditalien und 1500 Personen für ganz Italien. Das entspräche einer Entschädigungssumme von bisher 90 Mio. Euro.
Mit grosser Aufmerksamkeit wird der Prozess von Seiten der Schweizer Asbestopfer verfolgt. Sollte es nämlich zu Verurteilungen kommen, dann könnten in späteren Verfahren allenfalls Asbestopfer aus der Schweiz zivilrechtliche Ansprüche geltend machen, wie Massimo Aliotta vom Verein für Asbestopfer in der Schweiz festhält.
Pendent sind 200 Fälle von Arbeitern, die in Schweizer Eternitwerken arbeiteten, aber in Italien gestorben sind. Eine strafrechtliche Untersuchung ist im Zusammenhang mit Asbest in der Schweiz wegen Verjährung nicht mehr möglich.
Das Bundesgericht hat in dieser Sache Klartext gesprochen. «Selbst wenn Stephan Schmidheiny in Italien verurteilt werden sollte, ist es strafrechtlich in der Schweiz gelaufen», so Aliotta.
Gerhard Lob, swissinfo.ch
Die Ermittlungsunterlagen in Italien umfassen über 200’000 Dokumente. Darin wird das Schicksal von tausenden von Personen beschrieben, welche unter der Krebskrankheit Pleuramesothelium gelitten haben oder noch leiden.
1378 Arbeiter sind allein in Casale verstorben, 118 in Cavagnolo, 2 in Rubier und 384 in Bagnoli.
Fast 700 Arbeiter leiden momentan immer noch unter dieser schweren Krankheit.
Auch Familienangehörige oder Personen, die in der Nähe der Fabriken wohnten und mit Asbestfasern in Kontakt kamen, gehören zu den Betroffenen.
Asbest ist die Bezeichnung für eine Gruppe von natürlichen, zumeist in Felsmaterial vorkommenden faserförmigen Mineralien.
Asbestfasern sind gegen Feuer und Säuren beständig und haben eine hohe Zugfestigkeit.
Asbest wurde früher vor allem wegen seiner ausgezeichneten Hitze- und Feuerbeständigkeit geschätzt.
In den 1930er-Jahren wurde es in Industrie und Technik sehr häufig eingesetzt.
In den 1940ern wurden erstmals Untersuchungen zu den gesundheitlichen Auswirkungen dieses Stoffes gemacht: Mit der Zeit merkte man, dass bei der Verarbeitung von Asbest kleinste Fasern entstehen, die beim Einatmen die Gesundheit gravierend belasten können.
Bereits geringe Asbestfeinstaub-Konzentrationen in der Luft können so die Entstehung eines Mesothelioms (Tumor des Brust- oder Bauchfells) oder Lungenkrebs fördern.
Asbest ist mittlerweile in 40 Ländern verboten – in der Schweiz seit 1990. Die Anwendung von Spritzasbest wurde in der Eidgenossenschaft bereits 1975/1976 eingestellt.

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