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Jean Ziegler und die Schweiz – “Das Gehirn des Monsters ist hier”

Jean Ziegler
Jean Ziegler, 2019, vor dem Palast der Nationen in Genf. Keystone / Martial Trezzini

Sartre und Beauvoir politisierten ihn in Paris, Che Guevara gab ihm Karrieretipps. Der Soziologieprofessor Jean Ziegler ist einer der schärfsten Kritiker des Kapitalismus und der Schweizer Geschäftspraktiken. SWI hat ihn interviewt. 

Die Aussicht ist überwältigend: Vom Balkon seines Hauses in Russin, einem Dorf mit 530 Einwohner:innen, das von Weinbergen umgeben ist und nur fünfzehn Zugminuten von Genf entfernt liegt, sieht man den höchsten Berg Europas, den Mont Blanc. 
Jean Ziegler gilt als einer der wichtigsten Intellektuellen der Schweiz. Seine Bücher wurden in Dutzende von Sprachen übersetzt, dennoch ist er hochverschuldet – wegen Klagen gegen seine Bücher. Der 88-Jährige sieht sich immer noch als Revolutionär. Ziegler öffnet eine Flasche lokalen Merlot und wir beginnen zu reden. 

swissinfo.ch: Sie gelten als einer der schärfsten Kritiker der Schweiz – was hat Sie dazu gemacht? 

Jean Ziegler: Ich wurde in einem bürgerlichen Umfeld in der Schweiz geboren, hatte eine glückliche, aber sehr spiessige Kindheit. Doch wenn mir Armut begegnete, war ich fassungslos. Aber mein Vater sagte immer: “Gott hat es so gewollt”. Man nannte das Prädestination, ich fand das unerträglich.

In Paris gaben mir dann Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir endlich das Rüstzeug, um die Welt zu verstehen und für Veränderung zu kämpfen. Durch sie wurde das Buch für mich zu einer Waffe – und von Simone de Beauvoir erhielt ich meinen Namen. Als sie über meinen ersten Text, den ich für “Les Temps modernes” schrieb, meinen Namen sah, fragte sie mich: “Was ist das hier? Hans?”. Sie sagte, das sei ja kein Name. Sie hat es durchgestrichen und mich “Jean” genannt.

Jean Ziegler, 88, Soziologieprofessor im Ruhestand, ist einer der bekanntesten Globalisierungskritiker der Welt. Er war Professor an der Universität Genf, mit einer vierährigen Pause von 1967 bis 1999 Mitglied des Schweizer Parlaments als Abgeordneter der Sozialdemokratischen Partei (SP) und Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung. Derzeit ist er Mitglied des UN-Menschenrechtsrats (HRC).

Jean Ziegler hat zahlreiche Bestseller geschrieben, ist aber auch immer wieder wegen seiner Verbindungen zu Diktatoren wie Gaddafi oder Mugabe in die Kritik geraten. Er lebt mit seiner Frau in Russin, einer Gemeinde im Kanton Genf. 

Welche Rolle spielte Che Guevara für Sie?

Ich war eine Zeitlang sein Chauffeur, in Genf. Am Vorabend seiner Abreise nahm ich meinen Mut zusammen und sagte zu ihm: “Herr Kommandant, ich möchte mit Ihnen gehen!”  
Dann zeigte er auf die beleuchteten Gebäude im Zentrum von Genf und sagte: “Das Gehirn des Monsters ist hier.  Das ist der Punkt, an dem ihr kämpfen müsst”. Che gab mir die Strategie meines Kampfes vor: subversive Integration. Das Ziel sollte sein, in die Institutionen einzudringen und ihre Macht für meine Zwecke zu nutzen. So wurde ich Universitätsprofessor, Parlamentarier und dann sogar Sonderberichterstatter bei den Vereinten Nationen.

Jean Ziegler
Jean Ziegler signiert in Zuerich sein Buch “Eine Schweiz, über jeden Verdacht erhaben” (1976) Keystone / Str

Sie waren von 1967 bis 1999 Mitglied des Schweizer Parlaments und wurden einmal sogar dafür ausgezeichnet, dass Sie in einem einzigen Jahr – es war 1989 – 38 Gesetzesvorlagen eingereicht haben: ein Rekord. Hat der Gang in die Politik dazu beigetragen, etwas zu verändern?

Ja, obwohl das Parlament in der Schweiz eigentlich keine Macht hat. Als Parlamentarier kriegt man ja sehr wenig Geld. Wenn Sie also gewählt werden, werden Sie – vor allem, wenn Sie der richtigen Partei angehören –
 in die Verwaltungsräte von Unternehmen wie Nestlé, Roche, UBS und Credit Suisse aufgenommen, wo Sie Hunderttausende von Franken verdienen. Auf diese Weise werden Sie zum Söldner.

Ein Beispiel: Die OECD hat Druck gemacht, dass die Geldwäschereigesetze verschärft werden sollten, weil Anwälte, die Offshore-Konten eröffnen, in der Schweiz nicht unter diese Gesetze fallen. Die Regierung hat dieses Gesetz unter Druck vorgeschlagen. Und im September letzten Jahres hat das Parlament den Vorschlag abgelehnt. Die Bankenoligarchie hat immer die Mehrheit.

Jean Ziegler
Jean Ziegler in seinem Haus in Russin, einem Weinbauerndorf zwischen Genf und der französischen Grenze. swissinfo.ch

Parlamentarier zu sein hilft also nicht weiter?

Nicht wirklich. Als Parlamentarier kann man manchmal Transparenz schaffen und sich in den Weg stellen. Die Schweiz unterstützte die Apartheid bis zu deren Ende. Selbst die Amerikaner unter Reagan hatten den Handel mit südafrikanischem Gold bereits verboten. 
Ich habe diesen Skandal als Parlamentarier angeprangert, weil ich Informationen vom amerikanischen Geheimdienst erhalten hatte. Damals zeigte ich dem Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten, dass die Schweizer Fluggesellschaft Swissair ausserhalb des offiziellen Betriebs Flüge für den Transport des südafrikanischen Goldes durchführte.

Sie gelten auch als einer der Verantwortlichen für die Aufhebung des Bankgeheimnisses in der Schweiz. 

Das Bankgeheimnis ist nicht verschwunden. Das Bankraubwesen existiert noch immer. Skandale wie die “Swiss Secrets” zeigen, dass es weitergeht. Doch der automatische Informationsaustausch macht den Spekulanten das Leben schwer, da sie am Ende enttarnt werden.

In Ihrem Buch “Die Schweiz, das Gold und die Toten” prangerten Sie die Banken auch an, weil sie während des Zweiten Weltkriegs die deutschen Kriegsmaschinerie unterstützt haben.

Als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach, befanden sich die letzten grossen intakten jüdischen Gemeinden hinter dem Eisernen Vorhang. Darunter befanden sich auch Kinder oder Enkelkinder von Holocaust-Opfern. Als sie ausreisen durften und ihr Geld von Konten bei Schweizer Banken abholen wollten, verlangten die Beamten eine Sterbeurkunde. 

Aber jeder wusste, dass in den Konzentrationslagern von Auschwitz oder Sobibor keine Totenscheine ausgestellt wurden. Diese Leute wurden dann aus den Banken geworfen, ein Skandal. Ich wurde damals eingeladen, vor dem Bankenausschuss des US-Senats zu sprechen. Ich habe aus Überzeugung ausgesagt und weil ich diese rassistischen Verbrechen verurteilt habe. Die Banken haben mir nie verziehen.

Ihre Bücher haben immer für Wirbel gesorgt. Die Veröffentlichung eines Ihrer bekanntesten Bücher “Die Schweiz wäscht sich weisser” im Jahr 1990 schlug in der Schweiz ein wie eine Bombe. Danach wurden Sie neunmal von Banken, Anwälten und sogar Diktatoren verklagt. Am Ende haben Sie alles verloren, auch Ihr Mandat im Parlament.

Damals wurde ich bedroht und erhielt anonyme Anrufe. Die Presse schrieb damals, dass hinter meinen Geschichten Geld aus Moskau steckte. Es gab Verrückte, die dachten, ich sei der Grund für ihre Scheidungen. Ich musste fast zwei Jahre lang von der Polizei geschützt werden. Meine Familie hat in dieser Zeit sehr gelitten. Aber ich beschwere mich nicht: Ich bin ein privilegierter Mensch.
Die Prozesse habe ich alle verloren – und jede der neun Übersetzungen wurde als Verbrechen behandelt. Aber ich dachte, es wäre auch eine Gelegenheit, vor Gericht zu kämpfen – die Banker mussten die aufgeworfenen Fragen beantworten. 

Die Folgen für Sie waren aber hart.

Mein Universitätsgehalt wurde beschlagnahmt. Ich konnte nur mit dem Nötigsten leben. Alles, was ich mit Büchern verdient hatte, war blockiert. Das Haus, das Sie sehen, gehört meiner Frau. Es ist uns gelungen, in letzter Minute ein paar Dinge zu retten. Heute ist sogar mein Auto gemietet.

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Ziegler hält 1982 an einer Demonstration gegen die Massaker in palästinensischen Fluechtlingslagern in Beirut, Libanon, eine Redein Genf. Keystone / Str

Was halten Sie von der direkten Demokratie, einer Besonderheit des politischen Systems der Schweiz?

Ich halte die direkte Demokratie für eine gute Sache, aber in einer so ungleichen Gesellschaft wie der unseren  2 % der Kapitalisten in unserem Land verfügen über mehr als die Hälfte des gesamten Vermögens in der Schweiz – bedeutet dies, dass diejenigen mit Geld die Mehrheit beherrschen. Bei jeder Volksabstimmung über einen Gesetzesentwurf heisst es, dass der Vorschlag die Arbeitslosigkeit und die Kosten für den Staat erhöht. Unter dem Druck der Propaganda stimmen die Menschen gegen ihre Interessen: gegen die vorgeschlagene fünfte Ferienwoche, gegen die Einheitskrankenkasse – die unsere Beiträge um 30%gesenkt hätte – oder gegen die Erhöhung der Rente (AHV) 

Trotz allem haben Sie mehrere Gespräche mit einem der bekanntesten Vertreter des Kapitalismus, dem ehemaligen Nestlé-Präsidenten Peter Brabeck, geführt…

Ein Satz von Sartre hat mich in meinen politischen Kämpfen immer geleitet: Um die Menschen zu lieben, muss man das, was sie unterdrückt, stark hassen, nicht diejenigen, die sie unterdrücken. Das Problem ist nicht Brabeck. Denn wenn Brabeck das Kapital des Unternehmens nicht erhöht, wird er nicht mehr Präsident von Nestlé sein. Er ist nicht das Problem. Die multinationalen Unternehmen sind es.

Nach Angaben der Weltbank kontrollierten die 500 grössten transkontinentalen Unternehmen im Jahr 2021 zusammen 52,8% des Bruttoweltprodukts. Sie haben nur eine Strategie: Gewinnmaximierung in kürzester Zeit und um jeden Preis. 

Dennoch hat der Kapitalismus in China in 40 Jahren 800 Millionen Menschen aus der Armut geholt, vor allem nach Deng Xiaopings Reformen in den 1970er-Jahren. Ist das nicht der Beweis für die Effizienz des Kapitalismus?

Die kapitalistische Produktionsweise ist sicherlich die vitalste und kreativste, die die Menschheit je gekannt hat, aber sie entzieht sich der staatlichen oder gewerkschaftlichen Kontrolle. Unternehmen haben eine Macht, wie sie kein König, kein Papst jemals auf diesem Planeten hatte. Das führt zu einer kannibalistischen Weltordnung: Wir kämpfen gegen den Hunger. Wir kämpfen gegen die Allmacht der multinationalen Konzerne. Wir kämpfen gegen die globale Erwärmung. 

Ist der Kapitalismus für den Klimawandel verantwortlich?

Natürlich. Es gibt keine öffentliche Macht, die im Namen des Allgemeininteresses die von den Staaten im Rahmen des Pariser Abkommens beschlossene Normativität durchsetzen kann. Die Zerstörung des Planeten ist also die unmittelbare kausale Folge des Kapitalismus. Nehmen Sie das Pariser Abkommen von 2015. Ziel ist es, den Temperaturanstieg auf 1,5°C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Wir schreiben das Jahr 2022, und die Ölförderung hat sich verdreifacht, anstatt aus Profitgründen reduziert zu werden.

Wie sehen Sie die jungen Menschen, die heute im Rahmen der Bewegung “Fridays for Future” auf den Strassen der Hauptstädte protestieren?

Für mich ist das das Wunder der Geschichte. Dieses plötzliche Bewusstsein ist grossartig, denn es ist ihr Planet. Und plötzlich gibt es diese aussergewöhnliche Bewegung. Eine Art Aufstand des Bewusstseins, und es fängt an, sehr interessant zu werden, weil sie anfangen, über die Auswirkungen der multinationalen Unternehmen nachzudenken. Sie sehen die Zerstörung, die Stürme, die Wüsten, die Hungersnöte. Das ist ein echtes Erwachen.

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