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Eine “unmerkliche Summierung bescheidener Fragezeichen”

Herbstmanöver Schweizer Armee 1967
1967: Herbstmanöver der Schweizer Armee im Kanton Aargau. Keystone

Auch die Ereignisse des Jahres 1968 kamen nicht Knall auf Fall:  Vielmehr dient dieses als Chiffre für unterschiedliche Umbrüche. Die Serie "Vor 68" wirft Schlaglichter auf die Veränderungen in der Schweiz nach 1945. Eine davon war der Nonkonformismus, der Bruch mit der Etikette und dem kulturellen Mainstream.

Es ging voran – doch viele wollten nicht recht glücklich werden mit der wohlstandsgesättigten Nachkriegszeit. In den 1950er-Jahren fürchteten sich konservative Beobachter auch in der Schweiz davor, dass durch Konsum und Arbeit alle Menschen gleichförmig würden. So klagte alt Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen 1956, dass die Menschen der Gegenwart auf ihn wie entseelte “Halbautomaten” wirkten, ohne jede Eigenart. Als Vater der Anbauschlacht hatte Wahlen die Schweizerinnen und Schweizer im Zweiten Weltkrieg Kartoffeln auf Fussballfeldern bestellen lassen – der Krieg war ihm als einigendes Erlebnis in Erinnerung.

Nach 1945 schien die Schweizer Bevölkerung globalen Moden wieder schutzlos ausgeliefert zu sein. Die Angst vor der Anpassung galt dem Blick nach Aussen. Frauen, die sich wie amerikanische Filmstars aufmachten, wurden im Satiremagazin “Nebelspalter” als “Nachamseln” verlacht, das Thema der Frau, die ihre Bindung an die Scholle durch die Lektüre von Modezeitschriften verlor, schien damals viele zu belustigen und zugleich zu beunruhigen.

1967: Der erste Denner-Superdiscountmarkt der Schweiz am Lindenplatz in Zürich-Altstetten
1967: Der erste Denner-Superdiscountmarkt der Schweiz am Lindenplatz in Zürich-Altstetten Keystone/Widler

“Wer denkt, ist ein Verräter”

Man zog sich vor der Welt zurück in nostalgische Fantasien, “Eigenart” und “Charakter” wurden national gedacht: Ein echtes Individuum, das war ein Bergbauer mit Sense und Brisago, aber sicher kein Grafiker im Trenchcoat. Wer das in Frage stellte, wurde – paradoxerweise – als “Nonkonformist” gescholten. Die so Gescholtenen hätten Wahlen, was die Entseelung anbelangt, aber durchaus zugestimmt – nur sahen sie die Hauptgründe dafür sicher anderswo als er: Im schweizerischen Antiintellektualismus, in der Enge, wie Paul Nizon später schrieb, in der Tendenz zum Gefängnishaften. “Wer denkt, ist ein Verräter”, diktierte Friedrich Dürrenmatt dem Boulevard-Blatt “Blick” Mitte der 1960er-Jahre.

Eine deutsch-schweizerische Erscheinung

Nach und nach wurde der Schimpfname zum Ehrentitel – die so stolz Beschimpften blieben aber eine lose Gruppe. Erst 1967 kam es zu den ersten hochoffiziösen “Nonkonformisten-Treffen” – dennoch ist die Bewegung nicht abschliessend bestimmbar. Einige Nonkonformisten haben es in die Schullektüre geschafft: Peter Bichsel, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Otto F. Walter – andere kennt man heute kaum mehr. Zentrale Presse-Organe für den Nonkonformismus waren die Zeitungen “Zürcher Woche” und die “Weltwoche” – bis 1967 ihre Besitzer wechselten und die nonkonformistische Ausrichtung korrigiert wurde.

Einige schrieben Gedichte, wie der letzthin gestorbene Kurt Marti oder Erika Burkart, auch die konkrete Poesie und Malerei entstammte dem produktiven Dunstkreis des Nonkonformismus. Wieder andere machten Filme, philosophierten oder gingen komplett andere Wege. So schrieb der Nonkonformist Sergius Golowin Bücher über Esoterik und lud später den Drogenpapst Timothy Leary in die Schweiz ein. Andere machten Politik, wie Arthur Villard, ein antiautoritärer Lehrer und Kriegsdienstverweigerer aus Biel.

Im Wesentlichen war der Nonkonformismus eine sehr deutsch-schweizerische Erscheinung. Laut Hans Fleig, der damals selbst bei der “Zürcher Woche” schrieb, lag das daran, dass die Westschweiz auch im Kalten Krieg politisch etwas beweglicher und offener geblieben sei.

Gegen die “verkrustete Gleichschalterei”

Was die Nonkonformisten verband, war, wie der Journalist und Chronist der Bewegung, Fredi Lerch, schreibt, die Auflehnung gegen die damalige “verkrustete Gleichschalterei”. Der Kalte Krieg liess das Land erstarren.

Nach dem Ungarn-Aufstand 1956 liess man in der Schweiz zur “Geistigen Landesverteidigung” des Zweiten Weltkriegs aufleben. In ihr verband sich das Schwelgen in Erinnerungen an die alte Eidgenossenschaft und ihre widerständigen Kämpen mit radikaler Abwehr gegen jene Ketzer, welche die nationale Eintracht störten.

Um 1960 konnte jede Kritik am System Schweiz als schleichende, kommunistische Unterwanderung und jede und jeder Ungemütliche als Teil der fünften Kolonne Russlands gelten. Doch die Nonkonformisten hatten Fragen: Waren die Neutralität und der Föderalismus eine dienliche Sache? Ist die Armee nicht bloss Folklore? Sie wollten heiligen Kühen an den Kragen und in echten Alternativen denken, was ihnen in der Konkordanz-Demokratie als fast unmögliches Unterfangen erschien.

Die Schweiz als “Treffpunkt der Krämer und Spitzel”

Ein wegleitendes Manifest für die Unzufriedenen jener Generation, die vor dem letzten Krieg geboren waren, hatten Frisch, der Werber Markus Kutter und der Erfinder der Spazierwissenschaften Lucius Burckhardt bereits in den 1950er-Jahren verfasst. Im städtebaulichen Traktat “Achtung! die Schweiz” ging es einerseits um einen städteplanerischen Vorschlag: Eine neue Stadt sollte gebaut werden.

Andererseits handelte es sich um eine Fundamentalkritik des Bodens, auf dem diese neue Stadt gebaut werden sollte. Es ging darum, eine Schweiz zu ermöglichen, die man nicht mehr nur, wie die jungen Herren damals lästerten, “als Museum, als europäischen Kurort, als Altersasyl, als Passbehörde, als Tresor, als Treffpunkt der Krämer und Spitzel, als Idylle” verstehen konnte. Die Stadt, die sie bauen wollten, sollte ein Kontrapunkt zu den anderen erfundenen Dörfern sein, welche die Schweiz noch bis heute prägen, das Landidörfli und Seldwyla – mit all ihren Kartoffelfeldern.

Die Nonkonformisten lassen sich nicht trennscharf von den 1968ern abtrennen – sicher in einem gewissen Glauben daran, dass sich die Dinge durch Reformen und argumentative Kritik lösen liessen. Kutter brachte das Selbstverständnis vieler auf den Punkt, wenn er 1959 schrieb, er bevorzuge gegenüber dem Eklat und der Revolution die “unmerkliche Summierung bescheidener Fragezeichen”.

Auch “Achtung! Die Schweiz” war ein solches Fragezeichen, ein bestimmter, aber freundlicher und sehr konkreter Gegenvorschlag zur aktuellen Repräsentation der Schweiz. Die neue Stadt hätte für die Landesausstellung von 1964 gebaut werden sollen. Doch die Idee war chancenlos, an der Expo 1964 dominierte der Igel aus Beton als Wahrzeichen einer abgeschotteten Schweiz.

Plötzlich zählte die Kreativität

1967: Hippies treffen sich auf der Zürcher Allmend
1967: Rund 500 Hippies trafen sich auf der Zürcher Allmend zum ersten Love-In auf Schweizer Boden. Keystone

Doch ein Jahr später hinterfragte Walter Mathias Diggelmann mit seinem Roman “Die Hinterlassenschaft” als einer der ersten die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und beschrieb den Antikommunismus als Mittel des Vergessens. 1966 legte sich Max Frisch mit dem renommierten Germanisten Emil Staiger an, der alle engagierte Literatur als Kloakendichtung verunglimpfte, die mehr der Gemeinschaft diene und nur sich selbst durch die Thematisierung des Bizarren, Kranken und Psychopathischen besonders machen wolle.

1967 schreibt Bichsel mit “Des Schweizers Schweiz” ein Plädoyer gegen die Bilder der “Geistigen Landesverteidigung”, für eine Öffnung gegenüber der Welt: “Eine typische Schweiz gibt es nur in der Fremdenverkehrswerbung.” Die nonkonformen Nestbeschmutzer der Nachkriegszeit setzten zentrale Punkte für die Problematisierung der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit ihrer Kritik, schrieb 1967 der Journalist Hans Fleig, der ebenfalls in der “Zürcher Woche” geschrieben hatte, hätten sie eine “Brücke der Schweiz zur übrigen Welt” geschlagen.

In den 1960ern wurde Non-Konformität vom Stigma zum Ideal. Geradlinige Biografien erschienen nicht mehr als so erstrebenswert, stattdessen zählten Kreativität, Selbstverwirklichung und Exzentrik. 1964 führte beispielsweise die Frauenzeitschrift “Annabelle” den “Black Sheep Club” ein, eine Rubrik, in der sie regelmässig jemandem die Auszeichnung verlieh, ein schwarzes Schaf zu sein.

Nichts bringt diese Dynamik der 1960er Jahre so gut auf den Punkt wie das Coverbild des 1967 erschienenen Beatles-Albums Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Die Band steht in bunten Uniformen irgendeines Fantasiezirkus-Orchesters neben ihren Wachsreplika, die, im Anzug, betreten und leicht gräulich vor sich hinstarren. Der Appell war klar: Das alte gekämmte Ich war zurückzulassen.

Literatur: Fredi Lerch: Muellers Weg ins Paradies Nornkonformismus im Bern der sechziger Jahre. Zürich 2001.

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