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Die Schweiz pokert hoch mit der EU

“Die Schweiz hat sich ins eigene Knie geschossen”

Martin Vetterli
Martin Vetterli ist Präsident der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL). © François Wavre | Lundi13

Die geplatzten Verhandlungen über das institutionelle Abkommen mit der EU hinterlassen viele Fragezeichen über die Zukunft der Schweiz. Besonders im Bereich der Forschung und des universitären Austauschs ist vieles unklar. Laut dem Präsidenten der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) steht der Ruf des Alpenlands als internationaler Forschungsstandort auf dem Spiel.

Am stärksten gefährdet ist die Beteiligung der Schweiz am 100-Milliarden-Euro-Forschungsprogramm Horizon EuropeExterner Link der Europäischen Union: Die Schweiz erhält derzeit den zweithöchsten Anteil an Mitteln aller am Programm beteiligten Staaten. Zwei Drittel davon gehen an die Hochschulen.

Der Zugang der Schweiz zu Horizon Europe war schon vor dem Scheitern der Verhandlungen mit der EU unsicher. Jetzt trete das Land in eine sehr heikle Phase ein, die über seine künftige Wettbewerbsfähigkeit in den Bereichen Forschung und Innovation entscheiden werde, sagt EPFL-Präsident Martin Vetterli.

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Obwohl die Verhandlungen über das institutionelle Abkommen nichts mit der Forschungszusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU zu tun haben, könnte Brüssel auf ein “No Deal” Berns politisch reagieren, indem es ihm den Zugang zu seinen Innovationsmitteln verweigert oder beschliesst, die Schweiz als “Drittland” zu integrieren und damit die Eidgenossenschaft effektiv in die Enge zu treiben.

Martin Vetterli ist Forscher, Lehrer und Experte in der Schweizer Bildungs- und Forschungslandschaft.

Im Jahr 2017 wurde er zum Präsidenten der EPFL ernannt. Vetterli ist ausserdem ordentlicher Professor am Labor für audiovisuelle KommunikationExterner Link an der EPFL.

swissinfo: Haben Sie erwartet, dass das Rahmenabkommen scheitern würde?

Martin Vetterli: (lacht) Natürlich haben das alle erwartet.

Auch wenn es bei den Verhandlungen um den Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt ging, gibt es Bedenken, das Scheitern könnte die Fähigkeit der Schweiz untergraben, zu forschen, innovativ zu sein und Talente anzuziehen. Wird das passieren?

Rechtlich gesehen sind die beiden Themen nicht miteinander verknüpft, da das Rahmenabkommen nicht direkt mit der Forschungszusammenarbeit zu tun hat. Aber politisch gesehen gibt es Verbindungen. Es besteht also die Gefahr, dass die Schweiz nicht mehr am Programm Horizon Europe [Forschungsförderung] und am europäischen Forschungswettbewerb teilnehmen kann.

Das wäre ein grosser Nachteil, denn die “Champions League” der Forschung spielt in Europa: von Horizon Europe über den European Innovation Council, das Quantum Flagship bis hin zu den Programmen rund um die Weltraumforschung. Wenn wir von diesen Initiativen abgeschnitten würden, bestünde die reale Gefahr, dass wir unsere Wettbewerbsfähigkeit verlieren.

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Die Beziehungen der Schweiz zur EU sind ein gefährlicher Balanceakt, aus dem das Land auch als Verliererin hervorgehen kann.

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Inwieweit läuft die Schweiz Gefahr, ihre Attraktivität für ausländische Studierende zu verlieren?

Sicherlich könnten auch Studierendenaustausch-Programme von der aktuellen Situation betroffen sein [wie das Erasmus-Programm, mit dem die Schweiz assoziiert ist, und das Erasmus-Plus-Programm, über das die Schweiz verhandelt].

Nicht nur das, wir könnten für Forschende aus der Schweiz und dem Rest der Welt auch an Attraktivität verlieren, wie dies in Grossbritannien nach dem Brexit geschehen ist [Laut einer StudieExterner Link ist die Zahl der britischen Bürgerinnen und Bürger, die nach dem Brexit-Votum in EU-Länder auswandern, um 30% gestiegen]. Wir hoffen also, dass die Schweiz in dieser sensiblen Phase gut verhandeln kann.

Besteht die Gefahr, dass Europa der Schweiz die Tür zur Zusammenarbeit in Forschung und Innovation zuschlägt?

Dieses Risiko besteht. Auch wenn das Forschungsdossier vom Wirtschaftsdossier in Bezug auf den Binnenmarkt getrennt ist, muss darauf geachtet werden, dass das Ergebnis des letzteren das erstere nicht beeinflusst. Und das könnte passieren.

Was hat die Schweiz gegenüber der EU zu verlieren?

Alle gehen als Verlierer hervor, wenn man eine funktionierende Partnerschaft aufgibt. Nehmen Sie das Beispiel der Impfstoffe: Moderna ist ein US-amerikanisches Unternehmen, das eine Vereinbarung mit Lonza in der Schweiz zur Herstellung seines Impfstoffs hat, der dann in Spanien abgefüllt wird. Stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn es Barrieren zwischen den Ländern gegeben hätte. Wir hätten die Impfstoffe einfach nicht gehabt.

Um bei wichtigen Themen wie der Entwicklung, Produktion und Verteilung von Impfstoffen oder dem Kampf gegen die globale Erwärmung Fortschritte zu erzielen, ist es notwendig, dass die Länder zusammenarbeiten.

Ich beschreibe die Position der Schweiz aber gerne mit diesem Bild: Mit dem Scheitern der Rahmenvertrags-Verhandlungen hat Europa nur eine kleine Blessur davongetragen, die Schweiz aber hat sich ins Knie geschossen.

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Was könnten die unmittelbaren Folgen einer Trennung der EU von der Schweiz in Bezug auf die Forschungs- und Innovationszusammenarbeit sein?

Für 2021 sind die Weichen gestellt. Was beschlossen wurde, bleibt bestehen. Die Unsicherheit liegt bei Horizon Europe. Was uns betrifft, könnten die Folgen sehr real sein, denn die EU-Förderung macht 6-7% des EPFL-Budgets aus.

Die Mitgliedschaft im Programm Horizon Europe wird in der Regel formell durch das Schweizer Parlament bestimmt. Es befindet auch über die an die EU zu zahlende Teilnahmegebühr. Wenn wir die europäischen Gelder verlieren würden, müsste der Bundesrat herausfinden, wie er sie ersetzen kann.

Wie haben Studentenschaft und Forschende der EPFL auf das Scheitern des Rahmenabkommens reagiert?

Diese Entwicklung lag in der Luft. Es war bekannt, dass noch nichts entschieden war. Generell fragen sich alle, ob es noch möglich sein wird, an den grossen Forschungsprogrammen teilzunehmen.

Und wenn die Antwort Nein lautet, wie wird es dann möglich sein, weiterhin mit Giganten wie den Vereinigten Staaten und China technologisch zu konkurrieren?

Die Blöcke, die derzeit um die technologische Vorherrschaft ringen, sind Nordamerika, Asien und Europa. Europa kann sich nur mit wegweisenden Programmen wie Horizon Europe im Wettbewerb behaupten. Wenn die Schweiz eine unabhängige Beobachterin bliebe, würde dies die Position der EU sicher nicht stärken.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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