Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Wachablösung in der Lagerhalle: Die Drohne, die alle Bestände haargenau misst

Drohne, die im Inneren einer riesigen Lagerhalle mit Getreidevorräten
Schnell und genau: Innerhalb weniger Minuten scannt die Drohne die Volumen aller Vorräte in einem riesigen Rohstofflager. TINAMU

Erst Spielzeug, dann Spion und Tötungsmaschine: Drohnen werden auch in immer mehr Bereichen der Wirtschaft unverzichtbar. Ein Schweizer Startup nutzt sie erfolgreich für die Erfassung der Lagerbestände in riesigen Rohstofflagern.

Die Lagerhalle in Belgien ist so gross wie mehrere Fussballfelder. Im Inneren ist es dunkel und staubig. Eine kleine Drohne fliegt zwischen Hindernissen hindurch, weicht Stahlträgern und Trennwänden zwischen Bergen von Material aus – ohne Pilot und GPS.

Sie fliegt, indem sie sich allein auf den 3D-Lageplan verlässt, der in ihrem “Gedächtnis”, sprich auf einen Chip, gespeichert ist. Innerhalb weniger Minuten hat sie durch Scannen das Volumen aller dort abgelagerten Metallvorräte inventarisiert. Und das mit einer Genauigkeit und Geschwindigkeit, die mit keiner anderen Methode erreicht werden kann.

“Das zeigt, was bei der Automatisierung von Drohnen möglich ist”, sagt Denis Libouton, Vertriebsleiter von Tinamu, einem Startup-Unternehmen, das aus der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) entstanden ist und das die Software für diese Inspektionsdrohnen entwickelt.

Die Schweiz ist seit längerem bekannt für ihre Drohnenproduktion. Aber es ist weniger bekannt, dass hierzulande auch sehr leistungsfähige Flugsoftware geschrieben wird. Tinamu hat sich von Anfang an für diese Nische entschieden. Die Idee dahinter: “Wir wollen nicht von einem bestimmten Hersteller abhängig sein, sondern Drohnen aller Marken automatisieren können”, sagt Libouton.

Aber zunächst werden es Drohnen des französischen Herstellers Parrot sein, genauer gesagt das Modell ANAFI Ai, welches das 4G-Netz als Übertragungssystem nutzt. So kann diese Drohne, die im Handel für 4000 bis 5000 Franken erhältlich ist, Interferenzen vermeiden, wenn sie in der Nähe von Metallstrukturen fliegt – das ist sehr praktisch, wenn etwa das Innere eines Hangars inspiziert werden soll.

Grosses Potenzial

Im Mai dieses Jahres gab Tinamu eine Technologiepartnerschaft mit dem französischen Hersteller bekannt. Parrot war 2010 die erste Firma gewesen, die eine Spielzeugdrohne anbot, die über ein Smartphone gesteuert werden kann.

Heute hat sich das Unternehmen auf Drohnen für den professionellen und militärischen Einsatz spezialisiert. Es erzielt einen Jahresumsatz von rund 40 Millionen Euro und beschäftigt an die 170 Mitarbeiter:innen.

Im vergangenen Juni kündigte Tinamu eine Kapitalerhöhung von einer Million Schweizer Franken an, um weiter zu expandieren. Denn bereits vor der Zusammenarbeit mit Parrot konnte das Startup Erfolge ausweisen, allen voran einen Grossauftrag des Rohstoffriesen Trafigura, der sein operatives Zentrum in Genf hat.

“Über unser Netzwerk hatten wir vernommen, dass Nyrstar, eine Tochtergesellschaft von Trafigura, eine Lösung für die Inventarisierung ihrer Lagerbestände sucht”, erzählt Libouton. Nyrstar, ein Metallgiesserei- und Handelskonzern, ist einer der Weltmarktführer für Zink und Blei und handelt auch mit Kupfer, Gold und Silber.

“Wir haben uns für das System von Tinamu entschieden, weil es so schnell und genau ist”, schreibt uns ein Sprecher von Nyrstar in einer E-Mail. Das Rohstoffunternehmen hatte in seinem Lager im Hafen von Antwerpen Inventurmethoden wie Foto- oder Radarvermessungen getestet, doch diese erzeugten Unmengen von Daten, die sich nur schwer verarbeiten liessen. “Da die Lösung von Tinamu automatisiert ist, müssen unsere Mitarbeiter:innen vor Ort nicht lernen, wie man Drohnen steuert, und weil die Drohnen nicht auf GPS angewiesen sind, können sie innerhalb eines überdachten Lagerhauses operieren”, so der Sprecher.

Er bestätigt uns zudem, dass Nyrstar die Tinamu-gesteuerten Drohnen weltweit einsetzen wolle.

Schwergewichte an Land gezogen

Noch bevor Tinamu den Zuschlag von Nyrstar erhielt, hatte es bereits ein anderes Schwergewicht in der Schweiz von seiner Arbeit überzeugt – ohne wirklich danach zu suchen. “Wir fuhren zu einer Firma für Tiefbau und Baustoffe in der Nähe von Zürich, um unsere Drohnen zu testen”, erzählt Denis Libouton.

Das Unternehmen ist Kibag, einer der Schweizer Marktführer im Bereich Wiederaufbereitung von Baustoffen. An ihrem Standort in Regensdorf bei Zürich recycelt das Unternehmen jedes Jahr rund eine Million Tonnen Abbruchmaterial zu Baustoffkies. Auch hier ist die Bewirtschaftung der Lagerbestände von entscheidender Bedeutung. Die Firma muss wissen, wieviel Platz für neues Material bleibt und wieviel davon recycelt und für den Verkauf aufbereitet werden kann.

“Früher machten wir Schätzung nach Augenmass und haben die Zahlen dann in Excel-Tabellen übertragen. Das war mühsam, zeitaufwendig und ungenau. Wir hatten immer Zweifel”, sagt Urs Fischer, Kibag-Betriebsleiter in Regensdorf. Für ihn und sein Team wurde die kleine Drohne von Tinamu, die all diese Arbeit automatisch erledigt und genaue Daten in Echtzeit direkt auf Bildschirme sendet, sofort unentbehrlich. So sehr, dass er sich den Betrieb seiner Anlage ohne den neuen Helfer in der Luft gar nicht mehr vorstellen kann.

Zu den beiden Grosskunden Nyrstar und Kibag gesellte sich diesen Sommer zudem noch Axpo Tegra in Graubünden. Das Tochterunternehmen des Schweizer Energieriesen produziert Holzschnitzel für Kraftwerke.

Das von Tinamu entwickelte System birgt grosses Potenzial, das zur Energiewende beitragen kann. Denn die Metalle, die es inventarisiert, werden unter anderem für den Bau von Batterien für Elektroautos verwendet. Die Beschaffung und das Recycling dieser immer stärker gefragten Metalle, die mittlerweile als “kritisch” und “strategisch” eingestuft werden, ist ein wichtiges Anliegen der Europäischen Union. Und ihr Umlauf soll “just in time” erfolgen. Und genau dazu ist die Verwaltung der Lagerbestände entscheidend.

Autonome Drohnen im Anflug

“Die Bedeutung von autonomen Drohnen wir weiter zunehmen”, bestätigt Alcherio Martinoli, ausserordentlicher Professor am Distributed Intelligent Systems and Algorithms Laboratory der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL). Für ihn steht der Nutzen von Drohnen in der Industrie und vielen Berufsbereichen längst fest. Die Industrie wolle diese Technologie immer mehr einsetzen, da sie genauere Beobachtungen ermögliche und auch das Personal schütze, sagt er. Dank Drohnen müssten sich Menschen nicht mehr systematisch Situationen oder Umgebungen aussetzen, die gefährlich sein könnten.

Drohne fliegt in einem unterirdischen Gang
Drohnen sind in immer mehr Industriezweigen bereits zu unentbehrlichen Helfern geworden. TINAMU

Drohnen könnten sich immer besser auf ihre eigenen Sensoren verlassen und seien somit nicht auf eine externe Quelle wie GPS angewiesen, um ihren Standort zu bestimmen, sagt Martinoli. “Heute werden neue Sensoren mit interessanten Eigenschaften entwickelt, wie etwa ereignisgesteuerte Kameras, die der Drohne nur die wichtigsten Informationen liefern.”

Doch laut dem EPFL-Forscher gilt es noch einige Hürden zu überwinden. “Wenn man nur eingebettete Sensoren verwendet, muss man viel rechnen und mit vielen Unsicherheiten arbeiten”. In einem von Menschen und Robotern gemeinsam genutzten Raum werde die Automatisierung von Aufgaben schwieriger, da die Umgebung dynamischer sei, hinzu kämen die immer strengeren Sicherheitsvorschriften.

Eines ist klar: Die Inspektionsdrohnen sind auf dem Vormarsch. Forscher:innen setzen sie inzwischen vielerorts ein, sei es auf Schiffen, Windkraftanlagen, in Druckleitungen von Staudämmen, Strommasten, Brücken, Atomanlagen oder historischen Denkmälern.

Hochspannungsleitungen, Brücken, Windkraftanlagen, Industrieanlagen, Lagerhallen etc.: Stahl ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig und die Stabilität der Strukturen, die er bildet oder stützt, ist von entscheidender Bedeutung.

Auch in diesem Bereich könnten Drohnen schnelle und effiziente Inspektionen durchführen, während herkömmliche Methoden in der Regel schwere Geräte erfordern, die zudem nur ungenaue Ergebnisse liefern.

In Zusammenarbeit mit dem Flexible Structures Laboratory der EPFL hat das Team von Alcherio Martinoli im Juni 2022 ein zweijähriges Forschungsprojekt gestartet. Ziel ist es, grundlegende Entwicklungen und Methoden zu erarbeiten, die Drohnen dann nutzen, um autonom und zuverlässig Daten über eine Stahlstruktur zu erfassen und so deren unbemannte Inspektion zu erleichtern. So sollen Verformungen oder übermässige Belastungen von Stahlbauten entdeckt werden.

Ein weiterer Bereich für den Einsatz von Drohnen ist die Brandbekämpfung. Zwar werden sie bereits eingesetzt, um Feuerwehrschläuche auf Hochhäuser zu hieven oder Löschmittel abzuwerfen, um Waldbrände an der Ausbreitung zu hindern – aber immer aus sicherer Entfernung zu den Flammen.

Nach MEDUSA, der amphibischen Drohne, präsentierten Forscher der Empa und des Imperial College London kürzlich die FireDrone, eine hitzebeständige Drohne, die von gefährlichen Hotspots aus wichtige Erstinformationen liefern kann. In Zusammenarbeit mit der Feuerwehr entwickelten die Wissenschaftler:innen ein isolierendes Material, das hohen Temperaturen standhalten kann. Sie liessen sich dabei von der Natur und dabei vor allem Tieren wie Pinguinen und Polarfüchsen inspirieren, die dank Fett- oder Fellschichten selbst extreme Temperaturbedingungen überleben können.

Bei der Drohne wird ein Aerogel eingesetzt, ein ultraleichtes Material, das fast vollständig aus luftgefüllten Poren besteht, die von einer polymeren Substanz umschlossen sind. Nach einem ähnlichen Prinzip erforscht die NASA die Isolierung von Raumanzügen.

Ein Prototyp der FireDrone hat bei ersten Tests auf dem Flugfeld der Empa in Dübendorf bei Zürich bereits gute Ergebnisse erzielt. Das Gerät wurde auch mehrmals in der Nähe eines Gasfeuers in einer grossen Metallwanne getestet. Theoretisch könnte die Drohne auch in extrem kalten Umgebungen eingesetzt werden, etwa in den Polarregionen und auf Gletschern.

Es werden bereits Gespräche mit potenziellen Industriepartner:innen geführt, um die Entwicklung dieses Prototyps fortzusetzen.

Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft