The Swiss voice in the world since 1935
Top Stories
Schweizer Demokratie
Newsletter

Pesche, Käthlä und Sämu – kleiner Ratgeber für berndeutsche Rufnamen

Chrigu Stucki
Sie finden Berner Spitznamen kindisch? Sagen Sie das mal Schwingerkönig Chrigu Stucki... Keystone / Ennio Leanza

Wenn einem Seppu, Küsu, Vanä und Simä vorgestellt werden, wähnt man sich kurzerhand in Finnland. Tatsächlich aber ist man in der Schweizer Stadt Bern und hat gerade Joseph, Markus, Vanessa und Simone kennengelernt. Willkommen in der bunten Welt der Berner Spitznamen!

Ruf-, Spitz-, Über- oder Kosenamen – wie auch immer wir sie bezeichnen, es gibt sie in jeder Kultur. Wir nutzen sie entweder als Kurzform, weil schnell und praktisch (Alex für Alexander, Isa für Isabelle), als Kosenamen, um Zuneigung auszudrücken, oder als Übernamen, um zu signalisieren, dass jemand von einer Gruppe akzeptiert wurde und nun dazugehört.

Ein Spitzname ist im weitesten Sinne ein informeller Ersatz für den richtigen Namen einer Person.

Er kann eine verkürzte Version eines echten Namens sein (Alex, Kati), ein Kosename (Tiger) oder eine witzige Beschreibung, die auf körperlichen Merkmalen basiert, z.B. Big Mac für jemanden, der gross ist und einen schottischen Namen hat. Solche scherzhaften Übernamen werden auch oft ironisch benutzt, z.B. Wuschel für jemanden, der eine Glatze hat.

Damit nicht zu verwechseln sind Pseudonyme, also alternative Namen, die sich vor allem Kunstschaffende (Le Corbusier, Banksy, George Orwell), Schauspieler:innen (Marilyn Monroe, Bud Spencer, Vin Diesel) oder Musiker:innen zulegen (Elton John, Freddie Mercury, Heidi Happy).

Nicht selten handelt es sich auch einfach um einen Namen, den jemand in seiner Jugend angenommen hat und der sich eingeprägt hat: Pelé, Sting, Shelton «Spike» Lee, Gabrielle «Coco» Channel, Edwin «Buzz» Aldrin, Eldrick «Tiger» Woods.

Dieser Artikel befasst sich mit berndeutschen Formen von Vornamen, die oft – aber nicht immer – verkürzt werden. Ebenfalls nicht zu verwechseln sind sie mit Pfadfindernamen, unter denen einige berühmte Berner bekannt sind (Hans-Peter «Mani» Matter, Urs «Polo» Hofer).

Auch in der deutschen Sprache werden Vornamen bisweilen gekürzt, z.B. Max für Maximilian oder Bea für Beatrice. Alternativ werden Vornamen leicht abgeändert, z.B. Hans für Johannes oder Lilo für Liselotte, oder dann anglifiziert wie bei Jacky für Jacqueline oder Mike für Michael. Auch den Autor dieses Textes nennt niemand beim seinem vollen Namen Thomas – ich bin schlicht Tom.

Aus Bern aber jemanden zu finden, der seinen Namen in seiner ursprünglichen Form benutzt, ist definitiv die Ausnahme. In meiner ersten Woche bei Swissinfo lernte ich einen Chrigu, einen Pesche und gleich zwei Köbi kennen. Ich brauchte ein paar Tage, um zu merken, dass sie eigentlich Christian, Peter und Jakob heissen.

«Wenn ich mich jemanden vorstelle, dann immer als Chrigu – niemand nennt mich Christian», sagt mein Kollege Chrigu Raaflaub, der in Riggisberg im Kanton Bern aufgewachsen ist.

«Als Kind nannte mich meine Familie Chrigi. Als ich dann mit 16 Jahren ans Lehrerseminar in Bern ging, wurde Chrigu daraus.»

In Bern wird man von Freunden und Verwandten – und je nach Förmlichkeit am Arbeitsplatz auch von Arbeitskollegen – meist mit dem Spitznamen angesprochen, ganz egal, ob man ihn mag oder nicht. Lehrerinnen und Lehrer hingegen halten sich an die ursprünglichen Namen.

Mehr
Ein Neugeborenes

Mehr

Die besten Inhalte der SRG

Diese Regeln gelten für Vornamen in der Schweiz

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht In Deutschland soll ein Kind wie Ex-Hamas-Chef Yahya Sinwar heissen. Ginge das in der Schweiz? Wie liberal ist sie im Umgang mit Vornamen?

Mehr Diese Regeln gelten für Vornamen in der Schweiz

Bernifizierte Namen

Es gibt buchstäblich Hunderte von bernischen Versionen traditioneller Vornamen – und sollte es einen solchen nicht geben, wird kurzerhand einer erfunden.

Auf Wikipedia findet sich eine Seite zum Thema, die in Berner Mundart verfasst ist und eine Liste von mehr als 100 NamenExterner Link mit ihrer hochdeutschen Entsprechung enthält, von Abraham (Hämdu, Abi, Äbu) bis Werner (Werä, Wernu, Werni).

Diese Beispiele zeigen eine weitere Hürde für Uneingeweihte: Für die meisten Namen gibt es mehrere bernische Entsprechungen. Andreas könnte zum Beispiel Ändu, Res oder Resu heissen, Nicole vielleicht Nicä, Nigge, Nici, Nicci – oder nochmal was anderes (geschriebene Mundart ist ziemlich variabel…). Auch die Geografie spielt eine Rolle: Simon heisst in der Stadt Bern vielleicht Simu, im Berner Oberland aber Siml.

Ausserdem werden die Namen nicht unbedingt verkürzt, sondern eher «bernifiziert». Aus Anna könnte Ännelä werden und aus Urs Ürsu.

Schaut man sich die Liste genau an, stellt man fest, dass der Code nicht gänzlich unentzifferbar ist – hinter den meisten Spitznamen steckt eine gewisse Logik. Oft nimmt man die erste (manchmal auch die letzte) Silbe des ursprünglichen Namens, fügt einen Umlaut und am Ende ein «u» für Männer und ein «ä» oder «e» für Frauen: also Dänu, Flöru und Tinu (Daniel, Florian und Martin) und Chrige, Felä und Melä (Christina, Felicitas und Melanie). Einer meiner Favoriten ist Schämpu für Jean-Pierre oder Hans-Peter.

Angefangen hat alles im Emmental

«Das -u, das Ihnen in Namen wie Chrigu, Tinu oder Michu auffällt, ist die vokalische Realisierung der Endung -el», erklärt Sprachwissenschaftler Matthias FriedliExterner Link, Redaktor am Schweizerischen Idiotikon und Mitglied des Schweizerischen Dudenausschusses.

«Gewisse Dialekte realisieren den l-Laut in bestimmten Positionen als u, beispielsweise fouge (folge, also gehorchen), Abfau (Abfall), Schlüssu (Schlüssel). Man spricht in diesem Fall von l-Vokalisierung.»

«Vokalisiert wird hauptsächlich in einem grossen Teil des Kantons Bern. Deshalb gelten diese Kurznamen als typisch für Bern, wenn sie auch nicht im ganzen Kanton vorkommen», erklärt Friedli. «Die l-Vokalisierung gibt es übrigens seit etwa 200 Jahren. Sie hat sich nach Ansicht der Forschung vom Emmental her ausgebreitet.»

Ein Artikel der Berner ZeitungExterner Link aus dem Jahr 2009 über Live-Musik in der Schweizer Hauptstadt trug die Überschrift: «Pesche, Pädu, Phibe – das Triumvirat hinter den Kulissen». Das Triumvirat hinter den Kulissen waren Peter Burkhart, Beat Anliker und Philippe Cornu.

Fans der Schweizer Stop-Motion-Animation mögen sich fragen, ob etwa auch Pingu ein Berner sei. Woher der verspielte Pinguin, der von der der SRG Deutschschweiz erschaffen wurde, seinen Namen hat, ist allerdings unklar.

Mehr

Keine negativen Assoziationen

Spitznamen gibt es zwar überall im Land – zum Beispiel für den ehemaligen FIFA-Boss Joseph «Sepp» Blatter (geboren im Kanton Wallis) und Skilegende Verena «Vreni» Schneider (geboren im Kanton Glarus). In Bern jedoch sind die Spitznamen fast schon eine Kunstform.

«Die Bernerinnen und Berner sind besonders erfinderisch bei der kumpelhaften, familiären Abänderung und Verkürzung von Vornamen im Freundes- und Familienkreis», findet Markus Gasser, Mundartredaktor beim Schweizer Radio SRF, und nennt die Beispiele Housi (Hans) und Teslä (Theres).

Gasser bezog sich damitExterner Link auf eine Frage von Hörer Ernst Müller, der wissen wollte, woher sein Spitzname Aschi stammt.

«Sicher ist, dass die Koseform Aschi typisch für Bern ist – wie auch für Solothurn und Freiburg», erklärt Gasser. «Er ist absolut neutral gemeint, und soweit ich weiss, hat Aschi in der Umgangssprache keine zusätzliche Bedeutung.» Das sei aber nicht immer der Fall, betont Gasser. «Viele Namen haben eine zusätzliche Bedeutung. Wenn man sagt: ‹Du bisch mer no e Chlous!› (Niklaus), bedeutet das ‹Du bist etwas ungeschickt!›. Aber Aschi heisst eigentlich nur Ernst.»

Damit es aber auch schön kompliziert bleibt, heisst Ernst bisweilen auch Ärnscht, Äschi, Änggu und Ängge, wie berndeutsch.ch schreibtExterner Link.

Auch für Matthias Friedli sind diese Berner Spitznamen im Familien- und Freundeskreis neutral, wobei es gewisse Feinheiten gibt: «Wenn wir in der Familie über meine beiden Cousins sprechen, machen wir das ohne Nebensinn mit Dänu und Käru, können aber auch vom Dani oder Kari sprechen.»

«Wenn ich aber hässig auf die beiden bin, dann bevorzuge ich sicher die Formen mit -u. Dass heute oder – mehr noch – von Aussenstehenden ein Käru als grob/gröber angesehen wird als ein Kari, ist sicher Fakt», erklärt Friedli. «Ich beobachte es selbst bei mir: Die Kinder meines Cousins sprechen mich ganz selbstverständlich als Mättu an, was mich jeweils einen kurzen Moment irritiert. In Zürich lebend, wo mir alle den vollen Namen geben, habe ich das neutrale Mättu nicht mehr so im Ohr.»

Tatsächlich kommen Berner Spitznamen nicht überall gut an. Kollege Chrigu erzählt, dass eine Bekannte ihrem Sohn einen Namen geben wollte, der nicht geändert oder abgekürzt werden konnte, und nannte ihn deshalb Noah. «Seine Schulfreunde nannten ihn dann Nöu..

Editiert von Balz Rigendinger/sb. Übertragung aus dem Englischen: Lorenz (L¨öru) Mohler

Mehr

Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Zeno Zoccatelli

Ist Ihnen auch schon mal etwas Merkwürdiges über die Schweiz zu Ohren gekommen, das Sie fasziniert hat?

Gibt es eine Anekdote mit Schweizer Bezug, die Ihr Interesse geweckt hat? Teilen Sie diese uns mit, vielleicht berichten wir in einem Artikel darüber.

62 Likes
70 Kommentare
Diskussion anzeigen

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft