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Zahl der Kaufsüchtigen stark gestiegen

Jeder 20. Schweizer kann sein Kaufverhalten nur bedingt kontrollieren. Keystone

In der Schweiz sind rund 275'000 Personen kaufsüchtig. Besonders betroffen sind Junge, vor allem junge Frauen. Dies ergab die erste gesamtschweizerische Studie.

Die Zahl der Konsum-Süchtigen hat sich verdoppelt, nun schlagen die Schuldenberatungsstellen Alarm. Im Herbst wird zudem eine Präventions-Kampagne lanciert.

Mit steigendem Einkommen ist Einkaufen zunehmend zu einer Freizeitbeschäftigung geworden. Damit ist auch die Zahl der Konsum-Abhängigen gestiegen – im vergangenen Jahrzehnt schätzungsweise auf das Doppelte, nämlich 5%. Darunter sind besonders viele junge Menschen.

«Das ist alarmierend, denn viele Jugendliche konsumieren übermässig und leiden gleichzeitig darunter», sagt Verena Maag, Soziologin und Autorin der ersten Studie zur Kaufsucht in der Schweiz. Maag hat die Arbeit im Auftrag der Hochschule für Sozialarbeit Bern verfasst. Dazu befragte das GfS-Forschungsinstitut Zürich 705 Schweizerinnen und Schweizer zu ihrem Kaufverhalten.

«Reiche» Kinder

Kinder und Jugendliche in der Schweiz verfügen laut Schätzungen von Fachleuten über rund 600 Millionen Franken an Taschengeld. Kein Wunder, dass die Wirtschaft die jungen Konsumenten als zahlungskräftige Zielgruppe aggressiv bewirbt.

Dass gerade junge Menschen leicht in die Schuldenfalle tappen, wird von neuen Geschäftsmodalitäten gemäss der Devise «Kaufe heute, bezahle später» begünstigt.

Statuskonsum: Bezahlt wird später

So können alle bequem mit dem Handy telefonieren, Autos, Heim-Elektronik, Möbel, Kleider, Kosmetika kaufen oder sich teure Ferien leisten. Denn ohne diesen so genannten Statuskonsum gehören junge Leute heute einfach nicht mehr «dazu». Dank Kreditkarten, Handy-Abonnement, Leasing- oder Abzahlungsverträgen wird ihnen die Rechnung erst später präsentiert.

Anders gesagt: Das Geld wird jungen Menschen heute virtuell aus der Tasche gezogen. Was gleich bleibt: Geschenke werden keine gemacht.

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Gemäss der jüngsten Untersuchung der AG für Werbemedienforschung (Wemf) gibt jeder vierte Deutschschweizer Jugendliche zwischen 14 und 24 Jahren mehr Geld aus als er hat.

Beratungsstellen bestätigen eine steigende Anzahl halbwüchsiger Schuldner und gehen gar davon aus, dass der Anteil verschuldeter 18- bis 25-Jähriger landesweit bei 30% liegt.

Schuldenberatungen aufdotieren

Jürg Gschwend, Präsident des Schweizerischen Dachverbandes Schuldenberatung, macht deshalb auch trotz des neuen Konsumkredit-Gesetzes erhöhten Handlungsbedarf aus. «Wir fordern eine bessere Kreditfähigkeitsprüfung und mehr Mittel für die Schuldenberatungs-Stellen.»

Denn Schulden, so Gschwend, hätten nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche Seite. «Die Kosten für die Kredite zahlt oft die öffentliche Hand, sei es in Form von Steuerausfällen oder aufgelaufenen Versicherungsprämien.»

Tabu brechen

Gefordert sei aber nicht allein die Politik, sondern auch Eltern und Lehrkräfte. «Und natürlich braucht es die Jugendlichen selber, welche mehr Verantwortung übernehmen müssen», so Gschwend.

«Das wichtigste ist, dass man beginnt, mit Kollegen, Eltern und weiteren Vertrauenspersonen über Geld zu sprechen, denn Geld ist ein Riesentabu», so Gschwend. Das erschwere eine Auseinandersetzung mit dem Thema.

Reno Sami von der Basler Schuldenberatungsstelle PlusMinus ist Initiant der Präventionskampagne «max.money», die am 1. November 2004 mit einem online-Game, einem Magazin sowie einem Buch und einer CD startet.

«Mit ‹max.money› wollen wir Jugendlichen auf eine spielerisch-witzige Art die Möglichkeit geben, auf eine andere Art über Geld nachzudenken», lautet Samis Zielsetzung. Die Jugendlichen sollen weiter angeregt werden, mit Eltern über Geld zu sprechen oder selber ein Budget zu erstellen. «Sie sollen das Thema Geld als einen Aspekt nehmen, der zum Leben gehört, aber nicht das Leben bestimmen sollte», so Sami.

Das Geld für die Kampagne ist grösstenteils beisammen, aber keine einzige Bank oder Versicherung hat einen Teil beigesteuert. Angesichts davon, dass die Wirtschaft Verursacher des Problems ist, kommt zu wenig zurück, so die Kritik.

Sami gibt zu denken, dass 85% der Jugendlichen «Shoppen» als zentralen Lebensinhalt bezeichneten. Die jugendliche Konsumenten seien dabei sowohl Opfer als auch Täter: «Sie werden verführt, lassen sich aber auch verführen und bauen keine eigenen Positionen auf.»

Unkontrolliertes Kaufverhalten

Bei der Befragung der Hochschule und des GfS-Forschungsinstituts wurde festgestellt, dass knapp 5% der Befragten kaufsüchtig sind. Das heisst, sie haben den Drang zum Kaufen nicht unter Kontrolle. Auch dann nicht, wenn negative Folgen wie Verschuldung damit verbunden sind.

Weitere 33% weisen eine Tendenz zu diesem Verhalten auf. Sie kaufen, um dem unerfreulichen Alltag zu entkommen und um sich zu entspannen (35%), oder bloss, weil es billig ist (26%).

«Es handelt sich eher um ein psychologisches Problem», sagt Verena Maag gegenüber swissinfo. «Aber es gibt auch einen gesundheitlichen Aspekt. Die Sucht führt zu einer Zufriedenheit nach dem Kauf, wie Kokain, eine Art von Euphorie – nur dauert das nicht lang.»

Scham nach dem Kaufakt

Nach dem Kauf fragen sich 24% der Befragten, ob es wirklich so wichtig war, 14% haben manchmal ein schlechtes Gewissen, etwas gekauft zu haben. Und 7% geben zu, dass sie sich oft nicht getrauen, die gekauften Sachen anderen zu zeigen, weil man sie sonst für unvernünftig halten würde.

«Nach dem Kauf schämen sich Konsumsüchtige oft, weil sie etwas erwarben, was unnötig war. Oft fallen sie sogar in Depression», sagt Verena Maag.

Die Relation von knapp 5% Kaufsüchtigen entspricht etwa der in anderen hoch industrialisierten Ländern festgestellten Verbreitung.

Jüngere Personen haben ein weit ausgeprägteres unkontrolliertes Kaufverhalten als ältere. Der Anteil der Kaufsüchtigen ist bei Frauen fast doppelt so hoch wie bei Männern.

Rolle der Kreditkarten

Punkto Kaufverhalten unterscheiden sich Personen mit Kreditkarte nicht von jenen ohne Kreditkarten. Doch nutzt nahezu die Hälfte der Problemkäufer die Ausgabenlimite der Kreditkarte, und nur ein Viertel der Normalkäufer.

swissinfo, Renat Künzi

Eine Erhebung der Hochschule für Sozialarbeit Bern und dem GfS-Forschungsinstitut hat das Kaufverhalten von 705 Schweizerinnen und Schweizern untersucht.

Diese Stichprobe ist statistisch repräsentativ für die gesamte Bevölkerung.

Rund 4,8% zeigt Anzeichen eines unkontrollierten Kaufverhaltens.

1994 legte eine ähnliche Erhebung nur für die Stadt Zürich die Proportion der Kaufsüchtigen auf 2,5% fest.

Der Anteil an Problemkäufern hat sich demnach im letzten Jahrzehnt fast verdoppelt.

Die Tendenz zur Kaufsucht ist bei Jugendlichen besonders gross. Bei den 18-24-Jährigen geben 17% grosse und 47% mittlere Schwierigkeiten rund um ihre persönliche Konsumkontrolle an.

Konsumsüchtiges Verhalten ist bei Frauen fast doppelt so verbreitet wie bei Männern. Mit zunehmendem Alter nimmt der Kaufdrang ab.

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