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“Man darf Schweigen nicht als Zustimmung werten”

François Bachmann
François Bachmann, Vizepräsident der Evangelischen Volkspartei der Schweiz, ist Mitglied des Komitees, das sich gegen die Änderung des Transplantationsgesetzes wendet. © Marcel Bieri

Die Schweiz entscheidet am 15. Mai, ob die Widerspruchslösung bei der Organspende eingeführt werden soll. François Bachmann vom Nein-Komitee findet, dass ein Ja nicht unbedingt zu einer höheren Zahl von Organspenden führen würde.

Die Vorlage, über welche die Schweizer:innen im In- und Ausland am 15. Mai abstimmen werden, will alle erwachsenen Personen im Todesfall zu Organspendenden machen. Derzeit mussen die Bürger:innen vor ihrem Tod ausdrücklich der Organspende zustimmen.

Doch dieses System bringt nicht genügend Spender:innen hervor. Um den Mangel zu beheben, hat das Parlament im Oktober 2021 das Prinzip der “mutmasslichen Zustimmung” angenommen: Wenn eine Person ihre Organe nicht spenden möchte, muss sie dies zu Lebzeiten zum Ausdruck bringen.

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Dieser Paradigmenwechsel gefällt dem Komitee “Nein zur Organentnahme ohne Zustimmung” nicht. Die Widerspruchlösung würde unweigerlich zur Organentnahme bei Personen führen, die das nicht wollten, sagt François Bachmann, Mitglied des Referendumskomitees und Vizepräsident der Evangelischen Volkspartei der Schweiz (EVP).

swissinfo.ch: Sie sind gegen die Widerspruchlösung. Warum?

François Bachmann: Aus unserer Sicht darf man Schweigen nicht als Zustimmung werten. Wir würden von der freiwilligen Organspende zu einer Art Abtretungsmodell übergehen, bei dem der Staat Rechte an Ihren Organen hat.

Dies steht im Widerspruch zu unserer Verfassung, die unsere physische und psychische Integrität garantiert. Für jeden Eingriff in Ihren Körper wird eine ausdrückliche Zustimmung benötigt, das ist ein unveräusserliches Menschenrecht. Die Befürwortenden wollen dieses Recht aufheben, weil zu wenig Spendeorgane zur Verfügung stehen. Das lehnen wir ab.

Die Regierung plant, ein nationales Register einzurichten, damit Jede und Jeder angeben kann, wie sie zur Organspende stehen, zudem sind Informationskampagnen geplant. Reicht das nicht aus, um Unklarheiten aus dem Weg zu räumen?

Swisstransplant führt bereits ein Register. Im Januar musste die Stiftung jedoch zugeben, dass der Prozess der Datenkontrolle unzuverlässig ist, ausserdem ist es kompliziert und kostspielig, alle Menschen zu informieren und ihnen zu erklären, dass sie sich registrieren lassen müssen, wenn sie ihre Organe nicht spenden wollen. Mit der mutmasslichen Zustimmung werden Menschen Organe entnommen, die das vielleicht nicht gewollt haben.

Das Gesetz sieht vor, dass Angehörige eine Organspende unterbinden können, wenn sie glauben, dass die verstorbene Person es so gewollt hätte. Ausserdem darf im Zweifelsfall und wenn die Angehörigen nicht erreichbar sind, keine Entnahme stattfinden. Reicht das nicht aus, um dem Prinzip der Selbstbestimmung gerecht zu werden?

Ich habe kürzlich meinen Vater verloren und weiss, wie es sich anfühlt, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Unter solchen Umständen sind wir leicht zu beeinflussen und schnell bereit, etwas zu akzeptieren, das wir eigentlich nicht wollen.

Mit dem neuen Gesetz wird die Haltung propagiert, dass es gut ist, seine Organe zu spenden, und dass es dem Tod Sinn verleiht. Diese Idee setzt das Umfeld unter Druck – sie können fast nicht Nein sagen.

“Wenn wir unser System beibehalten, aber die Bevölkerung besser informieren, bin ich überzeugt, dass es mehr Spender:innen geben wird.”

François Bachmann, Vizepräsident EVP

Fast 75 Prozent der Bevölkerung befürworten die Organspende, aber die Ablehnungsquote der direkt betroffenen Angehörigen liegt bei 60 Prozent. Könnte die mutmassliche Zustimmung die Angehörigen nicht entlasten und das Problem der hohen Ablehnung mildern?

Wahrscheinlich gibt es viele Menschen, die in Umfragen der Organspende zustimmen. Wenn sie aber für sich oder eine angehörige Person diesen Entscheid treffen müssen, ändern sie ihre Meinung. Dies zeigt, dass der Gedankenprozess sehr schwierig und der Sachverhalt komplex ist.

Darüber hinaus zeigt eine Stellungnahme der Nationalen EthikkommissionExterner Link, dass die Zahl der Organspender:innen nicht zwangsläufig mit der mutmasslichen Zustimmung steigt. Es gibt Staaten mit demselben System wie die Schweiz, die eine höhere Quote schaffen.

Die Mehrheit der westeuropäischen Länder hat aber das Prinzip der mutmasslichen Zustimmung übernommen und weist eine höhere Spenderate auf. Sollten wir diesem Beispiel nicht folgen?

Nein, es gibt anderen Möglichkeiten, die Zahl der Organspenden zu erhöhen. Wenn wir unser System beibehalten, aber die Bevölkerung besser informieren, bin ich überzeugt, dass es mehr Spender:innen geben wird.

Wir müssen das Ganze besser erklären, um so das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Das ist viel besser als das Modell zu ändern und zu hoffen, dass so die Zahl der Spender:innen zunimmt.

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Im Jahr 2021 standen auf der Liste der Personen, die auf eine Organspende warten, 1434 Personen. Davon starben 72. Könnte eine Änderung des Transplantationsgesetzes nicht Leben retten?

Rund zwei Drittel der Personen auf dieser Liste warten auf eine Niere – bei ihnen geht es also nicht um Leben und Tod. Ausserdem können auch Menschen, die leben, ihre Niere spenden. Was den Rest betrifft, so ist das natürlich tragisch. Aber deshalb die gesamte Bevölkerung zu Spender:innen machen, ist ein grosser und falscher Schritt.

Beim aktuellen System gehen viele potentielle Organspender:innen verloren, weil sie ihren Willen nicht mitgeteilt haben. Ist es nicht legitim, diese Situation zu verhindern?

Vor allem muss der Druck auf die Familien verringert werden. Die mutmassliche Zustimmung würde das Gegenteil bewirken. Es besteht die Gefahr, dass Angehörige in einer Notsituation grünes Licht geben und sich noch Jahre später fragen, ob sie den richtigen Entscheid getroffen haben.

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(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)

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