Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Chinesische Repression gegen tibetische und uigurische Diaspora: «Die Schweiz muss jetzt handeln»

Tibeter:innen und Uigur:innenen legten 2016 bei einer Kundgebung auf dem Place des Nations in Genf eine Schweigeminute zu Ehren aller Opfer ein.
Tibeter:innen und Uigur:innenen legten 2016 bei einer Kundgebung auf dem Place des Nations in Genf eine Schweigeminute zu Ehren aller Opfer ein. Keystone / Salvatore Di Nolfi

Eine von der Schweizer Regierung in Auftrag gegebene Studie über die Einschüchterung der tibetischen und uigurischen Gemeinschaften wirft die Frage auf, ob Länder wie die Schweiz genug für den Schutz ihrer Bevölkerung tun.

Aufgrund der zahlreichen hier ansässigen internationalen Organisationen wird die Schweiz oft als die Hauptstadt der Menschenrechte bezeichnet.

Für die hier lebenden Uigur:innen und Tibeter:innen, ist die Schweiz aber auch ein Ofrt, an dem sie oft mit transnationaler Repression konfrontiert sind. Sie haben das Gefühl, der Überwachung, Einschüchterung und Bedrohung durch China nicht entkommen zu können.

«Wir sind uns bewusst, dass wir überwacht werden, vor allem im Internet», sagt Arya Amipa gegenüber SWI swissinfo.ch. Er lebt in der Schweiz und ist Co-Präsident des Vereins Tibeter Jugend in Europa.

«Wir erhalten immer wieder verdächtige E-Mails, in denen wir aufgefordert werden, vertrauliche Daten, wie die Erneuerung unserer E-Mail-Passwörter an jemanden zu senden, der auf den ersten Blick wie unser E-Mail-Provider aussieht. Erst bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass sich die E-Mail-Adresse ändert, wenn man mit der Maus darüberfährt.»

Amipa glaubt, dass die chinesische Regierung hinter den Phishing-Angriffen auf die tibetische Diaspora steckt. Deshalb «müssen wir uns schützen, indem wir Ende-zu-Ende-verschlüsselte Messenger, Zwei-Faktor-Authentifizierung und VPN-Clients verwenden», auch bei der Kommunikation innerhalb der Schweiz.

Öffentliche Veranstaltungen unter Beobachtung

Arya Amipa
Arya Amipa Arya Amipa

Auch Jigme Adotsang, ein in der Schweiz geborener Systemingenieur tibetischer Herkunft, hat die chinesische Überwachung erlebt.

Er berichtet, dass bei öffentlichen Veranstaltungen und Demonstrationen der tibetischen Gemeinschaft «immer wieder am Rande solcher Veranstaltungen unbekannte Personen asiatischer Herkunft mit grossen Kameras auftauchen».

Adotsang berichtete der Schweizer NGO Gesellschaft für bedrohte Völker über seine Erfahrungen mit der ÜberwachungExterner Link durch China.

Amipas und Adotsangs Aussagen werden durch einen kürzlich vom Bundesrat veröffentlichten Bericht mit dem Titel «Situation der tibetischen und uigurischen Personen in der Schweiz»Externer Link gestützt, der auf den Ergebnissen einer von der Schweizer Regierung in Auftrag gegebenen Studie der Universität Basel basiert.

Darin werden die umfassenden Überwachungs- und Druckmassnahmen chinesischer Behörden gegen in der Schweiz lebende Tibeter:innen und Uigur:innen detailliert beschrieben.

Der Forschungsbericht kommt zum Schluss, dass mit «hoher Wahrscheinlichkeit» Mitglieder der tibetischen und uigurischen Gemeinschaften in der Schweiz «systematisch von Akteuren aus China überwacht, bedroht und vereinnahmt» werden.

Die Schweizer Regierung fügt hinzu, dass «das Ausmass und die Intensität der in diesem Forschungsbericht identifizierten Formen von Druck eher unter- als überschätzt werden».

Dies liegt unter anderem daran, dass die Täter oft im Verborgenen agieren und die Opfer Repressalien fürchten, wenn sie über ihre Erfahrungen sprechen.

Lesen Sie mehr über die veröffentlichte Studie über das Ausmass der Überwachung und Einschüchterung der tibetischen und uigurischen Gemeinschaften in der Schweiz durch China:

Mehr

Reaktionen auf Chinas transnationale Repression

Die transnationale Repression durch China ist im letzten Jahr zu einem heissen Thema geworden, doch das Phänomen ist nicht neu. Einige westliche Regierungen haben in den letzten Jahren Schritte unternommen, um das Problem wirksamer anzugehen.

Die US-Regierung hat das Problem erstmals im Jahr 2023 offiziell angesprochen. Eine parteiübergreifende Gruppe von US-Senatoren brachte den Transnational Repression Policy ActExterner Link ein, der darauf abzielt, «ausländische Regierungen und Einzelpersonen zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie Menschen in den Vereinigten Staaten und US-Bürger im Ausland stalken, einschüchtern oder angreifen».

Die USA sind auch das einzige Land, das bisher auf allen Regierungsebenen beträchtliche Ressourcen bereitgestellt hat, um das Problem zu verstehen und sinnvolle Massnahmen vorzuschlagen, wie z. B. die Einrichtung von Hotlines für Personen, die Opfer transnationaler Repressionen geworden sind, und die Durchführung von Konsultationen mit den betroffenen Gemeinschaften.

Kanada und Deutschland hätten ähnliche Anstrengungen unternommen, teilte der Welt-Uiguren-Kongress SWI swissinfo.ch mit. «Wir hoffen, dass gleichgesinnte Regierungen zusammenarbeiten können, um all dem entgegenzuwirken.»

Unter transnationaler Repression versteht man Taktiken, die Regierungen anwenden, um ihre Diaspora im Ausland zu unterdrücken – darunter Gewaltandrohungen, Abschiebung und Bedrohung von Familienangehörigen.

Auch finanzielle Anreize oder die Zusicherung von Familienkontakten gehören zu den Methoden, die eingesetzt werden, um im Gegenzug die Überwachung der Exilgemeinde im Ausland oder eine Änderung des Verhaltens und der persönlichen Kontakte zu erreichen.

Der Weltkongress der Uiguren:innen bestätigt, dass Uigur:innen im Ausland zunehmend grenzüberschreitenden Repressionen ausgesetzt sind, und zwar durch Überwachungstechnologien wie WeChat und die Integrated Joint Operations Platform (IJOP), ein auf Big-Data-Analysen basierendes Polizeiprogramm in Xinjiang, durch Belästigungen per Video- und Telefonanrufe, Malware, Spyware, Hacking und Spionage.

Aber «uns sind keine Ressourcen oder Instrumente bekannt, die zur Lösung dieses Problems im Schweizer Kontext zur Verfügung stehen», teilt er SWI swissinfo.ch mit.

Lang erwarteter Bericht verzögerte sich

Schätzungsweise 8000 Tibeter:innen leben in der Schweiz, was sie zu einer der grössten tibetischen Exilgemeinden ausserhalb Indiens macht.

Die Zahl der Uigur:innen bewegt sich im zwei- bis niedrigen dreistelligen Bereich. Beide Gemeinschaften warteten seit Jahren auf den Schweizer Bericht.

Zögern der Schweizer Behörden

Amipa vom tibetischen Jugendverband vermutet, dass der Grund für die Verzögerung darin liegt, dass die Schweiz ihren wichtigsten Handelspartner in Asien nicht verärgern will.

Er ist jedoch der Meinung, dass «Schweigen und Untätigkeit in diesen Fragen eine aktive Entscheidung ist, die es ermöglicht, dass die Gräueltaten weitergehen».

Jahrzehntelang verfolgte die Schweiz gegenüber China den Ansatz «Wandel durch Handel». Die Schweiz glaubte, dass der Handel zu positiven Veränderungen führen würde, insbesondere zu einer stärkeren Beachtung der Menschenrechte, während sich China allmählich öffnen würde.

Die letzten zehn Jahre haben jedoch gezeigt, dass das Gegenteil der Fall ist. Chinas Umgang mit Tibeter:innen und Uigur:innen, auch in der Diaspora, hat sich drastisch verschlechtert.

In Bezug auf das Verhalten der Schweizer Behörden weist der Forschungsbericht darauf hin, dass eine wahrgenommene Verschärfung der Restriktionen für friedliche Demonstrationen und Asylpraktiken eine Form von Druck darstellt.

Zum Beispiel wurde früher in den Dokumenten von Tibetern:innen in der Schweiz als Herkunftsland «staatenlos» angegeben. Heute steht dort «China».

Diese Änderung zwingt die Tibeter:innen zu regelmässigen Kontakten mit dem chinesischen Konsulat, wodurch sie der Registrierung und weiteren Überwachung und Einschüchterung durch chinesische Beamte ausgesetzt sind, die sie daran erinnern, sich nicht politisch zu betätigen.

«Unsere Regierung hat Angst vor der Reaktion der chinesischen Regierung», sagt Walder. Er glaubt, dass sie befürchtet, die Veröffentlichung des Berichts könnte ihren Plan gefährden, das Freihandelsabkommen mit China auszuweiten.

Nicht nur wegen der Reaktion Pekings, sondern auch wegen der möglichen Auswirkungen des Berichts auf die öffentliche Meinung, da das aktualisierte Freihandelsabkommen vom Schweizer Volk angenommen werden muss.

Eine Gruppe von Tibeterinnen und Tibetern führte 2014 eine stille Demonstration bei einem Kulturfestival in Basel durch. Ein Video zeigt, wie eine Besucherin von unbekannten Männern, die sie für chinesische Botschaftsangehörige hält, gewaltsam gepackt, geschubst und am Boden gehalten wird:

Externer Inhalt

Die Schweiz ist neben Island und Serbien das einzige europäische Land, das ein Freihandelsabkommen mit China abgeschlossen hat. Walder ist der Ansicht, dass die Schweiz Handelsinteressen stets Vorrang vor Menschenrechten eingeräumt hat.

«Das Ergebnis ist, dass unser Handel seit der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens 2013 um 70 Prozent gestiegen ist, während sich die Menschenrechtslage in China stark verschlechtert hat. Chinas feindselige Aktionen gegen Tibeter und Uiguren in der Schweiz waren noch nie so häufig wie heute», sagt er.

Mehr

Mehr

Kritik am Mandat für neues Freihandelsabkommen mit China wird laut

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die zuständige Nationalratskommission begrüsst die Stossrichtung des Bundesrats beim Verhandlungsmandat für ein neues Freihandelsabkommen mit China. Verbindliche Regelungen zum Schutz der Menschenrechte sollen nicht Teil der Verhandlungen sein, was die Linke erzürnt.

Mehr Kritik am Mandat für neues Freihandelsabkommen mit China wird laut

Obwohl die Schweizer Regierung mehrere Treffen mit den betroffenen Gemeinschaften im Land abgehalten hat, die unter der transnationalen Repression durch China leiden, teilte die Schweizerische Gesellschaft für Tibeterfreundschaft SWI swissinfo.ch mit, dass ihr «keine konkreten Massnahmen der Schweizer Regierung bekannt sind».

Der kürzlich veröffentlichte Bericht der Regierung wird in diesen Kreisen sicherlich als positives Signal gewertet. Die Ergebnisse des Berichts standen auch auf der Tagesordnung für DiskussionenExterner Link beim bilateralen Menschenrechtsdialog zwischen der Schweiz und China Ende Februar.

Für Amipa genügt es jedoch nicht, die Realität der transnationalen Repression der Tibeter und der uigurischen Diaspora anzuerkennen. «Die Schweiz muss jetzt handeln. Diese Dinge werden weiter passieren, solange China keine Konsequenzen fürchtet.»

Editiert von Benjamin von Wyl/ts, Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger

Die Identität der verfassenden Person wurde aus Sicherheitsgründen in diesem Bericht nicht genannt.

Mehr
Newsletter sobre a política externa

Mehr

Unser Newsletter zur Aussenpolitik

Die Schweiz in einer Welt, die sich bewegt. Beobachten Sie mit uns die Schweizer Aussenpolitik und ihre Entwicklungen – wir liefern die Vertiefung dazu.

Mehr Unser Newsletter zur Aussenpolitik
Mit der Schweiz verbunden

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft