Ist diese Freiburger Gemeinde wirklich die kleinste Stadt Europas?
Die Gemeinde Rue im Kanton Freiburg bezeichnet sich gerne als «kleinste Stadt Europas». Dieser Titel wird jedoch auch von mehreren anderen Orten beansprucht.
Sie liegt im Süden des Kantons Freiburg, nahe der Grenze zum Kanton Waadt: Die mittelalterliche Stadt Rue wird oft als «kleinste Stadt Europas» bezeichnet. Ein Titel, den die Gemeinde stolz auf ihrer Website trägt.
Er wird auch häufig für touristische Werbezwecke verwendet. So präsentiert beispielsweise Schweiz Tourismus Rue mit dem folgenden HinweisExterner Link: «Die kleinste Stadt von Europa begeistert mit ihren mittelalterlichen Gassen, dem Schloss und den nahegelegenen Wasserfällen, den Chutes des Chavanettes.»
Die Website von Freiburg Tourismus präzisiert in ihrer französischsprachigen VersionExterner Link, dass «die kleinste Stadt Europas, Rue, Sie einlädt, ihre mittelalterlichen Gassen zu entdecken».
Und tatsächlich bestätigt ein Spaziergang vor Ort, dass die Tourismusbüros Recht haben. Der Ort ist mittelalterlich, charmant und … klein. Er wurde um einen Felsvorsprung herum gebaut, auf dessen Spitze eine Burg thront.
Die verwinkelten Gassen sind gesäumt von traditionellen Steinhäusern, einer Kirche, einigen öffentlichen Gebäuden, Stadtmauern und malerischen Bauernhöfen.
Nach dem Zusammenschluss mit umliegenden Gemeinden erstreckt sich die Gemeinde Rue heute über 23,2 km² und hat etwa 1600 Einwohnerinnen und Einwohner.
Der eigentliche mittelalterliche Ortskern umfasst jedoch nur eine Fläche von 0,2 km². Schätzungsweise knapp 1000 Personen leben dort (es gibt keine separaten Statistiken nur für diesen Ort).
Was ihren Status als Stadt angeht, lässt sich dieser aus historischen Gründen erklären: Rue gehört nämlich zu den «neuen Städten», die im 13. Jahrhundert von den Grafen von Savoyen gegründet wurden, um ihre Macht in der Region zu festigen.
Mehrere Anwärterinnen
Auf den ersten Blick erscheint die Vorstellung, dass Rue die kleinste Stadt Europas sein könnte, also nicht völlig abwegig. Aufgrund ihrer Fläche und der Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner kann diese Stadt tatsächlich winzig erscheinen – vor allem im Vergleich zu Metropolen wie Moskau, London oder Berlin, aber auch zu etwas bescheideneren Städten wie Genf oder Zürich.
Doch auch mehrere andere Städte können den Titel «kleinste Stadt Europas» für sich beanspruchen. Am häufigsten werden Durbuy (Belgien)Externer Link, Hum (Kroatien)Externer Link und die Vatikanstadt in RomExterner Link genannt. Auf Tourismus-Websites werden die Städte Durbuy und Hum sogar als «kleinste Stadt der Welt» bezeichnet.
Das ist jedoch nur Marketing, denn es gibt keine offizielle Rangliste. Selbst das Guinness-Buch der Rekorde erstellt keine solche Rangliste, obwohl es Hum einst ebendiesen Titel verliehen hatte.
Die berühmte Publikation gibt zwar an, welcher Staat der kleinsteExterner Link oder welche Hauptstadt die kleinste der Welt istExterner Link, führt aber keine spezielle Kategorie für die kleinste Stadt der Welt oder Europas.
Vergleiche sind nicht aussagekräftig
Dass es keine offizielle Rangliste gibt, liegt wahrscheinlich daran, dass die zu berücksichtigenden Kriterien variieren. Wenn von der «kleinsten Stadt» die Rede ist, worauf stützt man sich dann: auf die Fläche, die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner oder eine Kombination aus beidem?
Ein Vergleich zwischen Durbuy und Rue verdeutlicht die Schwierigkeit einer solchen Einstufung. Betrachtet man nur das historische Zentrum, so ist die belgische Stadt mit weniger als 400 Einwohnerinnen und Einwohnern auf einer Fläche von zwei Hektar (0,02 km²) tatsächlich die kleinere Stadt.
Betrachtet man jedoch die gesamte Gemeinde, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Durbuy umfasst 41 Dörfer und mehr als 11’000 Einwohnerinnen und Einwohner auf einer Fläche von 157 km², was für die «kleinste Stadt der Welt» doch recht viel ist.
Die Gemeinde Rue hingegen umfasst sieben Ortschaften mit wie bereits erwähnt etwa 1600 Einwohnerinnen und Einwohnern auf einer Fläche von 23,2 km².
Eine Frage der Grösse, aber nicht nur
Ein weiterer Faktor erschwert die Erstellung einer Rangliste zusätzlich. Der Begriff «Stadt» ist an sich schon schwammig. Die Kriterien, nach denen ein Ort als Stadt bezeichnet wird, variieren je nach Land und Epoche.
Selbst in der Schweiz ist die Situation komplex. Es gibt nämlich kein Bundesgesetz, das eine einheitliche Definition des Begriffs «Stadt» liefert. Aufgrund des typisch schweizerischen Föderalismus variieren die Definition und die angewandten Kriterien zudem je nach Kanton.
Ein Ort kann als Stadt bezeichnet werden, weil ihm dieser Titel in der Vergangenheit verliehen wurde oder weil er einst eine städtische Funktion ausgeübt hat, beispielsweise als Standort eines regionalen Markts oder einer Verwaltung.
Zu diesen historischen Überlegungen kommen modernere, statistisch basierte Kriterien hinzu. In vielen Kantonen neigt man dazu, eine Gemeinde als «Stadt» zu bezeichnen, sobald sie die Grenze von 10’000 Einwohnerinnen und Einwohnern überschreitet.
Das Bundesamt für StatistikExterner Link stützt sich in der Statistik der Schweizer Städte nicht nur auf die Bevölkerungszahl, sondern auch auf die wirtschaftliche und touristische Aktivität einer Gemeinde.
Damit eine Gemeinde als Stadt definiert wird, muss sie mindestens 14’000 «Einwohneräquivalente» erreichen. Dieser Index wird auf der Grundlage der Wohnbevölkerung, der Anzahl der Arbeitsplätze und der Anzahl der Hotelübernachtungen berechnet. Zudem muss eine Stadt eine Dichte von mindestens 2500 Einwohneräquivalenten pro km² aufweisen.
Kompliziert, nicht wahr? Selbst Suchmaschinen, die auf künstlicher Intelligenz basieren, sind angesichts der Komplexität der Schweiz etwas überfordert.
Überzeugen Sie sich selbst, indem Sie ihnen die folgende Frage stellen: «Welche ist die kleinste Stadt der Schweiz?» Die Antworten werden wahrscheinlich sehr unterschiedlich ausfallen und Sie in viele verschiedene Ecken des Landes führen.
Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen mithilfe von Deepl: Christian Raaflaub
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