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Die Schweiz stimmt ab

Der Ausgang der Abstimmung ist ungewiss. Keystone

Das Schweizer Stimmvolk stimmt am Wochenende über zwei nationale Vorlagen ab: Über eine temporäre Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Sanierung der hoch defizitären Invalidenversicherung und über die Abschaffung der allgemeinen Volksinitiative.

Die Invalidenversicherung (IV) hat insgesamt 13 Milliarden Schulden. Das jährliche Defizit, das 1996 noch 427 Mio. Franken ausmachte, stieg bis 2005 auf 1,5 Mrd. Franken an.

Die 5. IV-Revision hatte zwar zur Folge, dass die Anzahl der jährlichen Neurenten in den vergangenen zwei Jahren um 40% gesunken ist. Dennoch rutscht die IV immer tiefer in die roten Zahlen. Die Politik ist sich einig, dass es so nicht weiter gehen kann. In der Frage allerdings, wie genau die IV saniert werden soll, sind sich links und rechts nicht einig.

Die Gegner – unter ihnen auch die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei SVP – bekämpft die Sanierung der IV mittels einer Erhöhung der Mehrwertsteuer mit dem Argument, zuerst müssten die Ausgaben massiv gesenkt und Missbrauch verhindert werden.

Der Bundesrat und die Mehrheit des Parlaments wollen die IV in mehreren Schritten sanieren. Durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozentpunkte sollen dem Sozialwerk jährlich 1,2 Milliarden Mehreinnahmen zufliessen. Damit kann das jährlich anfallende Defizit gedeckt werden.

Auf 7 Jahre befristet

Die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist auf 7 Jahre, also auf die Zeit von 2011 bis Ende 2017, befristet. Mit einer 6. IV-Revision, also einer Reihe von Massnahmen zur Ausgabensenkung, soll die Versicherung ab 2016 nachhaltig saniert werden. Die grossen Parteien der Linken und der Mitte, die Regierung, Gewerkschaften und die Wirtschaftsverbände unterstützen die Vorlage.

Ursprünglich war vorgesehen, die Mehrwertsteuer bereits ab 1. Januar 2010 zu erhöhen. Der Wirtschaftsdachverband economiesuisse und der Gewerbeverband hatten sich dagegen ausgesprochen. Sie argumentierten, es sei angesichts der Wirtschaftskrise der falsche Zeitpunkt. Sie kritisierten die für viele Firmen zu kurzen Fristen für die Umstellung auf den neuen Steuersatz.

In Einer Hauruck-Übung hat das Parlament Mitte Juni 2009 dem Druck der Wirtschaft nachgegeben und das Inkrafttreten der Mehrwertsteuer-Erhöhung um ein Jahr verschoben.

Laut dem Präsidenten von economiesuisse, Gerold Bührer, unterstützen die Unternehmen die Mehrwertsteuer-Erhöhung nun auch deshalb, weil sonst mit einer Erhöhung der Lohnprozente zugunsten der IV zu rechnen wäre. Dies wäre aus Arbeitgebersicht “noch weniger wünschenswert”, so Bührer.

Gemäss den Umfragen der SRG SSR ideé suisse hat die Vorlage mehr Befürworter als Gegner. Dennoch ist ein Ja noch nicht sicher. Wenn am Wochenende vom 13. September abgestimmt worden wäre, hätten 50% der Stimmenden Ja gestimmt, 32% hätten ein Nein eingelegt, und 18% hatten sich noch nicht entschieden.

Ausserordentlich kompliziert

Der zweiten Vorlage, dem Verzicht auf die allgemeine Volksinitiative, scheint ein grosser Teil der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ratlos gegenüber zustehen. Laut den Umfragen wussten am 13. September 39% noch nicht, was sie stimmen sollen, während 32% dagegen und nur 29% für den Verzicht waren.

Worum geht es? Am 9. Februar 2003 hat das Stimmvolk mit 70,3% Ja-Stimmen der Einführung der allgemeinen Volksinitiative zugestimmt. Die Stimmbeteiligung lag bei rekordtiefen 27%.

Die allgemeine Volksinitiative würde es im Gegensatz zur bestehenden Volksinitiative erlauben, auch Änderungen auf Gesetzesstufe und nicht ausschliesslich auf Stufe Verfassung zu verlangen.

Mit der allgemeinen Volksinitiative sollten 100’000 Stimmberechtigte oder acht Kantone die Annahme oder Aufhebung von Verfassungs- oder Gesetzesbestimmungen verlangen können. Das Parlament hätte dann entscheiden können, auf welcher Rechtsetzungsstufe das Begehren verwirklicht wird.

In der Zwischenzeit hat sich herausgestellt, dass die Umsetzung der allgemeinen Volksinitiative ausserordentlich kompliziert und damit praktisch unmöglich wäre. Als unlösbar erwies sich etwa der Fall, dass sich die beiden gleichberechtigten Kammern (Nationalrat und Ständerat) über die Umsetzung der Initiative nicht einigen könnten.

Eine Vox-Analyse ergab zudem, dass etwa ein Viertel der Stimmenden gar nicht genau wusste, worum es ging. Deshalb kamen die zuständigen politischen Instanzen zum Schluss, dass die allgemeine Volksinitiative wieder aus der Verfassung gestrichen werden soll. Das Parlament sah deshalb keinen anderen Ausweg, als die Aufhebung von Artikel 139a der Bundesverfassung anzugehen.

Doppeltes Ja notwendig

Die Vorlage ist unbestritten. Sie führte im Vorfeld weder zu einer öffentlichen Debatte, noch gibt es einen Abstimmungskampf.

Bei beiden Vorlagen handelt es sich um Verfassungsänderungen. Deshalb braucht es in beiden Fällen für ein Ja sowohl eine Volksmehrheit wie auch das Ständemehr. swissinfo.ch berichtet am Sonntag, 27. September ab 12.30 Uhr laufend über die Abstimmungsresultate.

Andreas Keiser, swissinfo.ch

Ein Ja verhindert die Aushöhlung der AHV-Reserven.

Bei einem Ja bleibt genügend Zeit, um eine langfristige und ausgewogene Sanierung der IV zu beschliessen und umzusetzen.

Radikale Kahlschläge im System der IV müssen verhindert werden, damit die Betroffenen weiterhin beruflich und sozial eingegliedert werden können und ihre Existenz gesichert ist.

Die befristete Mehrwertsteuer-Erhöhung ist bescheiden und belastet das Portemonnaie jedes Einzelnen nicht spürbar.

Gesunde und stabile Sozialwerke sind ein wichtiges Element einer prosperierenden Wirtschaft. Dieser Standortvorteil darf nicht aufs Spiel gesetzt werden.

Im Falle eines Nein drohen radikale Leistungskürzungen, welche den behinderten Menschen in der Schweiz eine würdige Existenz verunmöglichen.

In jedem privatwirtschaftlich geführten Unternehmen werden defizitäre Bereiche saniert, bevor neue Investitionen getätigt werden.

Bei der Invalidenversicherung sollen andere Gesetzmässigkeiten zum Tragen kommen. Das fehlende Geld soll über eine Steuererhöhung beschafft werden.

Damit betreibt man reine Symptom-Bekämpfung.

Steuererhöhungen auf Vorrat sind keine bürgerliche Politik, und sie schwächen den Wirtschaftsstandort Schweiz.

Die Schweizer Sozialwerke sind geschaffen worden, um Notsituationen überbrücken zu helfen. Sie sind nicht dazu da, dass sie von arbeitsscheuen Menschen oder von Systemschmarotzern ausgenutzt und missbraucht werden.

Es müssen Anpassungen auf Gesetzes- und Verordnungsebene gemacht werden, damit Renten, die ins Ausland wandern, kaufkraftbereinigt ausbezahlt werden.

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