The Swiss voice in the world since 1935

«Europa steht nicht mehr im Zentrum der US-Interessen»

Blick aus den USA durch Schweizer Brille: Alfred Defago erachtet die Beziehungen zwischen den zwei Staaten allgemein als sehr gut. Pixsil

Während der ersten Europa-Reise Barack Obamas als US-Präsident hat der frühere Schweizer Botschafter Alfred Defago mit swissinfo über die Beziehungen zwischen den USA und der Schweiz gesprochen.

Alfred Defago, dessen neustes Buch «Die USA, Barack Obama und der Amerikanische Traum» im Mai erscheinen wird, äussert sich auch zur Rolle der Schweiz in der neuen Weltordnung.

Defago, Professor für Internationale Beziehungen an University of Wisconsin (Madison) und der Florida Atlantic University, schreibt in der Essay-Sammlung über Möglichkeiten, die sich für Obama auftun, aber auch über potentielle Gefahren.

Zudem macht sich Defago Gedanken, zu welchen neuen Beziehungen – aber auch neuen Missverständnissen – es kommen könnte.

Defago war in den späten 1990er-Jahren Botschafter in Washington, als die Beziehungen zwischen der Schweiz und den USA wegen der Affäre um die Holocaust-Gelder angespannt waren.

swissinfo: Wieso haben Sie dieses Buch geschrieben?

Alfred Defago: Ich sehe immer noch recht viele transatlantische Missverständnisse. In der Ära Obama sind die Europäer gegenüber den USA plötzlich wieder offener, sie denken, dass Obama praktisch alles ändern kann. Ich sehe eine teilweise sehr unkritische Bewunderung für Obama und damit ein zu optimistisches Bild der USA.

Paradoxerweise habe ich manchmal den Eindruck, der Obama-Kult sei einfach die Kehrseite des Bush-Hasses und des anderen Amerika. Aber in beiden Fällen sind die Europäer weit entfernt von einer realistischen und ausgewogenen Sicht der USA.

swissinfo: Gibt es Pläne, ihr Buch für den amerikanischen Markt zu übersetzen?

A.D.: Nein, dieses Buch richtet sich an ein Publikum in Europa. Für Amerikaner müsste ich ein völlig anderes Buch schreiben, in dem ich das erklären würde, was die Amerikaner als teilweise merkwürdige Standpunkte gewisser Europäer betrachten!

swissinfo: Obamas Zustimmungsraten sind nach wie vor hoch, aber er hat einige schwierige Wochen hinter sich. Was sind die grössten Herausforderungen, vor denen er steht?

A.D.: Ganz sicher seine Versprechen aus dem Wahlkampf – er war der Kandidat der Hoffnung und Versprechen. Er hatte hohe Erwartungen geweckt und steht jetzt natürlich vor dem Problem, diese umzusetzen.

Wir werden sehen. Die Hoffnungen in der Bevölkerung sind noch immer da, das spürt man. Aber das wird nicht immer so sein. Ich denke, er hat noch eine gewisse Zeitspanne, während der die Leute Geduld haben.

Wenn aber bis gegen Anfang Winter nichts geschieht, was als wirkliche Wende gesehen wird – einerseits wirtschaftlich, aber auch spirituell und intellektuell -, könnte das zu einem realen Problem werden. Die Leute werden dann nach anderen Lösungen suchen.

Im November 2010 stehen Zwischenwahlen an, diese könnten für die Demokraten zu einem Waterloo werden.

swissinfo: Die Gründerväter definierten den amerikanischen Traum als ‹Leben, Freiheit und das Streben nach Glück›. Ist das heute noch eine zutreffende Definition?

A.D.: Wie alle Träume ist auch dieser vage, aber es ist ein Traum der Chancen für alle, die nach materiellen Wohlstand streben. Der Traum kann aber auch spirituelle Dinge umfassen. Ich denke, dass die Vagheit des Begriffs seine Schwäche, gleichzeitig aber auch seine Stärke ist.

[Dieses Konzept] war in den USA immer kontrovers, denn für viele Menschen blieb der Traum unerfüllbar, viele Leute wurden immer und immer wieder enttäuscht.

Dennoch gibt es diesen Traum bis heute. Und die Tatsache, dass Obama Präsident wurde, hat viel dazu beigetragen, dass sich der ‹American Dream› regenerieren konnte.

swissinfo: In Ihrem Buch schreiben sie auch über Aussenpolitik. Bis zu welchem Grad könnte im Titel auch der ‹Globale Traum› stehen?

A.D.: Ich richte mein Augenmerk auf die Beziehungen zwischen Europa und den USA und weise auch darauf hin, dass der Amerikanische Traum bis zu einem gewissen Grad ein Unikat der Vereinigten Staaten ist.

Die Europäer sind von der Geschichte böse zugerichtet worden und haben wohl auch daher einen nüchterneren, manchmal sogar zynischen oder sarkastischen Ansatz in der Politik.

Ich denke, sie sind fasziniert von Obamas Karriere, weil sie in den meisten europäischen Ländern so nicht hätte passieren können.

Die USA sind noch immer eine grundsätzlich optimistische Nation: Die Leute denken, dass sie die Wende herbeiführen können, und in zwei, drei Jahren alles wieder gut sein wird.

swissinfo: Sind Sie optimistisch?

A.D.: Ich bin etwas skeptisch, was Obamas Wirtschaftsplan angeht. Er ist vielleicht zu allumfassend in seinem Bestreben, alle Probleme zu lösen.

Wenn man schaut, wie die Europäer auf sein enormes Stimulus-Paket reagiert haben, konnte man alte Spannungen wieder sehen. So als zum Beispiel der tschechische Regierungschef Mirek Topolanek erklärte, dass Amerikas Rezepte gegen die globale Rezession ein ‹Weg in die Hölle› seien.

swissinfo: Mal abgesehen von der Hölle, wie sehen Sie die Beziehungen zwischen Europa und den USA?

A.D.: Ich hatte vorausgesagt, dass die Beziehungen sich verbessern würden, aber nach Bush war das ja auch keine besonders grosse Sache. Die Beziehungen werden besser werden, einige alte Konflikte bleiben aber bestehen.

Dazu gehört sicher, dass die Europäer sehen müssen, dass Europa nicht mehr im Zentrum der Interessen der USA steht.

Es war kein Zufall, dass Obamas erste Kontakte mit andern Staaten sich auf Asien und den Nahen Osten konzentrierten. Die erste Auslandreise von Aussenministerin Hillary Clinton führte nach Ostasien.

Sie besuchte zwar auch Europa, aber es ist klar, dass die USA globale Themen heute mehr aus einer pazifisch-asiatisch geprägten Sicht angehen. Europa darf sich nicht wundern, wenn es höchstens noch zweite Geige spielt.

swissinfo: Die Beziehungen zwischen der Schweiz und den USA sind zurzeit recht angespannt. Sind sie überrascht, wie aggressiv die US-Regierung das Schweizer Bankgeheimnis im Visier hat?

A.D.: Nicht wirklich. Ich hatte schon im Januar, bevor Obama sein Amt antrat, erklärt, dass die Lage für die Schweiz bei einem koordinierten Vorgehen Europas und der Vereinigten Staaten im Kampf gegen das Schweizer Bankgeheimnis unangenehm werde.

Und das ist jetzt passiert, nicht weil die Amerikaner bei dem Thema allein Druck aufsetzen, sondern weil sich die Schweiz konfrontiert sieht mit einer sehr unheiligen Koalition von Ländern, die das Bankgeheimnis als Schlüsselelement der internationalen Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz abschaffen wollen.

swissinfo: Wie sieht man die Schweiz in den USA?

A.D.: Die Beziehungen sind insgesamt sehr gut, aber Amerikaner haben eine etwas andere Sicht auf die Politik, sie gliedern Beziehungen auf und sagen dann in etwa: ‹Unsere Beziehungen bestehen aus zehn Segmenten, in acht sind sie exzellent, im neunten gut, doch im zehnten – in diesem Fall beim Bankgeheimnis – haben wir ernsthafte Probleme, die wir lösen müssen.›

Schweizer hingegen tendieren dazu, Beziehungen allumfassend zu betrachten. Und wenn dann etwas schief läuft, denken sie, dass die ganze Beziehung ein Trümmerhaufen sei. Wir Schweizer sollten lernen, Beziehungen als einen Container mit vielen Segmenten zu sehen, und versuchen, Probleme segmentweise zu lösen.

swissinfo-Interview: Thomas Stephens
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

Die USA sind der wichtigste Handelspartner der Schweiz ausserhalb Europas.
Die Schweizer Exporte beliefen sich 2007 auf 18,32 Mrd. Fr., die US-Importe auf 9,43 Mrd. Fr.
Die USA sind die Hauptdestination für Schweizer Direkt-Investitionen.
2006 haben die beiden Länder ein Kooperationsforum für Handel und Investitionen geschaffen.
Ende 2007 waren 73’978 Schweizer Staatsangehörige in den USA registriert, darunter 52’415 Doppelbürgerinnen und Doppelbürger.

Alfred Defago, Jahrgang 1942, ist in Chur aufgewachsen. An den Universitäten Bern und Wien studierte er Geschichte und deutsche Literatur. Er ist verheiratet.

Defago ist heute Dozent für internationale Beziehungen an der University of Wisconsin-Madison und der Florida Atlantic University.

Von 1997 bis 2001 war Defago Schweizer Botschafter in Washington, von 1994 bis 1997 Generalkonsul der Schweiz in New York.

Von 1993-1994 war er Generalsekretär des Aussenministeriums, von 1986 bis 1993 Direktor des Bundesamtes für Kultur.

Von 1971 bis 1986 hatte Defago bei Radio DRS gearbeitet, von 1984-1986 als Chefredaktor.

In seinem neusten Buch «Die USA, Barack Obama und der Amerikanische Traum» erörtert Defago Fragen wie: Wohin bewegen sich die USA unter Barack Obama? Kann Obama sein Land aus der derzeitigen Krise führen? Kann er die immensen Erwartungen an ihn erfüllen? Wie wird sich die Politik Obamas auf Europa auswirken?

Mit der Schweiz verbunden

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft