Invalidenversicherung: Die Schweiz stimmt ab

Die Schweizerinnen und Schweizer entscheiden am Wochenende über die 5. IV-Revision. Die letzten Umfragen sagen ein Ja voraus.
Die Reform strebt eine bessere Eingliederung der Behinderten in den Berufsalltag an. Die Gegner kritisieren die Kürzung der Renten und den Mangel an Verpflichtungen für Arbeitgeber.
Seit Jahren wird in der Schweizer Politik heftig um die Invalidenversicherung (IV) gestritten. Grund: Die Sozialversicherung leidet unter einem gigantischen Schuldenberg.
Das Jahr 2006 schloss die IV mit einem Defizit von 1,6 Milliarden Franken ab. Die Gesamtschuldenlast hat 9 Mrd. Fr. erreicht.
Grund für diese Entwicklung ist die starke Zunahme an IV-Rentnerinnen und -Rentnern. Die Zahl der IV-Bezüger ist von 3,2% der aktiven Bevölkerung (1990) auf 5,3% im Jahr 2005 gestiegen.
Alle politischen Parteien sind sich einig, dass es so nicht weiter gehen kann und eine Sanierung dringend nötig ist. Über die einzuleitenden Massnahmen gehen die Meinungen aber weit auseinander.
Die 5. IV-Revision wurde vom Parlament mehrheitlich beschlossen, zum Missfallen der Linken. Die Sozialdemokratische Partei hat daher beschlossen, das von einem kleinen Behindertenverband lancierte Referendum zu unterstützen.
Was die Revision will
Die Revision strebt eine Senkung der Ausgaben im Umfang von 586 Millionen Franken pro Jahr bis 2025 an. Dank dieser Massnahme sollte es möglich sein, bis 2009 die Finanzen der IV ins Lot zu bringen. Die Zahl neuer IV-Bezüger soll langfristig gesenkt werden.
Das Revisionspaket setzt auf Früherkennungs-Massnahmen, um ein Abrutschen in die IV zu vermeiden und die Fortsetzung einer Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Starkes Gewicht wird auch auf Eingliederungs-Massnahmen für Behinderte gelegt.
Um das Sparziel zu erreichen, werden aber einige Leistungen gestrichen – auf «sozial vertretbare Weise», wie die Befürworter sagen. So entfällt bei neuen Renten der Karrierezuschlag, der heute Versicherten gewährt wird, sofern sie invalid werden, bevor sie 45-jährig sind. Gestrichen werden auch noch laufende Zusatzrenten für Ehefrauen und -männer von IV-Rentnern und -Rentnerinnen.
Die Argumente der Gegner
Die Gegner der Revision kritisieren insbesondere die Leistungskürzungen. Ihrer Meinung nach könnten sich diese als Bumerang erweisen, wenn Ausfälle durch andere Sozialbeiträge wie die Fürsorge kompensiert werden müssten. Zudem sind die Gegner der Meinung, dass diese IV-Revision einen grossen bürokratischen Apparat schafft, um die Behinderten zu kontrollieren.
Zwar teilen auch die Gegner der Revision das Ziel, Behinderte in den Berufsalltag einzugliedern. Doch ihrer Meinung kann das Gesetz dieses Ziel nicht erreichen, weil Arbeitgeber nicht genügend in die Pflicht genommen werden und finanzielle Anreize fehlen.
Eine provokative Kampagne
Die Kampagne gegen die 5. IV-Revision ist teilweise in sehr provokativem und für die Schweiz untypischem Stil geführt worden. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund hat eine Serie von Postkarten anfertigen lassen, in denen Regierungsmitglieder als Behinderte dargestellt werden.
Viele kleine Behindertenverbände unterstützen das Referendum, doch die beiden grössten Behindertenorganisationen der Schweiz (Pro Infirmis und Procap) haben Stimmfreigabe beschlossen. Sie befürchten, dass im Falle einer Ablehnung der Revision die positiven Aspekte der Reform verloren gehen.
swissinfo, Andrea Tognina
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
Das Referendum gegen die IV-Revision wurde von zwei Behinderten-Organisationen ergriffen. Inzwischen ist die Gegnerschaft auf über 100 verschiedene Verbände, Gewerkschaften und Parteien aus dem linken Spektrum angewachsen.
Die grosse Behinderten-Organisation «Pro Infirmis» hat Stimmfreigabe gegeben und sorgte damit unter Behinderten für Unmut.
Die Befürworter stammen fast geschlossen aus dem bürgerlichen Lager. Ein überparteiliches Komitee setzt sich für die Revision ein.

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