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Zwiespältige Ansichten der Ausländer zur Ausschaffung

Der Freitag im "Espace Mozaïk" steht im Zeichen des Diwans. swissinfo.ch

Am 28. November entscheidet das Schweizer Stimmvolk darüber, ob es eine Verschärfung der Ausschaffung krimineller Ausländer will oder nicht. Wie stehen die Migrantinnen und Migranten selber dazu? Eine Reportage aus einem Treffpunkt für Ausländer.

Mitten unter den grossen Lagerhäusern, die das Flon-Quartier im Stadtzentrum von Lausanne säumen, jenseits von glanzvollen Schaufenstern in schicken Strassen sticht ein kleines und schillerndes Haus hervor. Hunderte von Mosaiksteinen schmücken die Fassade – eine kleine Farbinsel inmitten der grauen Gebäude.

Der Farbtupfer ist das “Espace Mozaïk”, ein Treffpunkt von Migranten für Migranten, wo verschiedene Aktivitäten angeboten werden: Diskussionen, Französischkurse, Kunsttherapien oder Ausflüge. Das Angebot soll Begegnungen aber auch den Austausch zwischen den Migranten begünstigen, die aus verschiedenen Kulturen stammen.

Diskussionen nach afrikanischer Art

Der Freitagabend steht ganz im Zeichen des Diwans. “Das Prinzip entspricht in etwa der Diskussions-Tradition in Afrika”, erklärt Carole, die seit acht Jahren freiwillig im “Espace Mozaïk” mitarbeitet. Einen Unterschied gäbe es: Weiche Diwans oder Sofas ersetzen hier die trockene Erde, aus der die afrikanischen Affenbrotbäume wachsen, unter denen man sitzt und diskutiert.

Die Frauen und Männer, die hier anstatt um den Baum um einen Tisch sitzen, kommen aus Ländern wie Somalia, Brasilien, Kosovo oder Bosnien. “Der Diwan steht für einen Ort der Diskussionen. Hier sprechen die Leute über ihren Alltag oder ihre Probleme”, sagt Valdet Ballabani, Betreuer und interkultureller Übersetzer.

“Eigentlich gibt es kein bestimmtes oder vorgegebenes Thema. Die Diskussionen sind offen. Aber sie können lange dauern, denn wir übersetzen für Personen, die kein Französisch verstehen”, erklärt der Betreuer weiter.

Heute Abend steht die Diskussion ganz im Zeichen der Politik und greift ein aktuelles Thema auf: die Ausschaffungs-Initiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) sowie der Gegenvorschlag des Bundesrates und des Parlamentes.

Kein Mitleid mit den Kriminellen

“Die Kriminellen müssen bestraft und ausgewiesen werden. Aber man muss den Grund berücksichtigen, weshalb eine Person ein Verbrechen begangen hat. Ist es eine Gewohnheit oder wurde sie dazu gezwungen, diese Tat zu begehen, weil sie keine andere Wahl hatte, zum Beispiel wegen schwierigen sozialen Verhältnissen? War sie sich dessen bewusst, was sie getan hatte?”, fragt Avdic aus Bosnien und sagt: “Ich bin gegen das Ausweisen von Menschen, die eine einzige Tat begangen haben und diese bereuen. Wenn sich hingegen eine Person die Kriminalität zum Beruf macht, muss sie ausgewiesen werden”, sagt Avdic.

In der Runde fällt das Urteil streng aus über Ausländer, die das Image all jener beschmutzen, die versuchen, ein Leben in einem Land aufzubauen, das nicht das ihre ist.

Schuldig und verantwortlich

“In den Zeitungen hat es ständig Artikel über Ausländer, die ein Verbrechen verübt haben. Wenn ich das sehe, fühle ich mich sofort schuldig und verantwortlich. Wenn zum Beispiel 30% der Ausländer Verbrechen verüben, dann stehen die restlichen 70% nur wegen den Kriminellen in schlechtem Licht da”, erklärt Nesib, der als Hauswart arbeitet. “Man muss den Platz denen geben, die auf korrekte Art und Weise von ihrer Arbeit leben wollen.”

Avdic sieht es auch so: “Seit ich in der Schweiz bin, werde ich aufgrund von Delikten wahrgenommen, die andere verübt haben.”

Doch ist die Verschärfung der Ausschaffungspraxis von kriminellen Ausländern eine Lösung? 2009 wurden laut einem Bericht der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen rund 750 Personen, die eine Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz besassen, wegen eines Delikts ausgewiesen. Eine Zunahme verglichen mit dem Jahr 2008, in dem 615 Personen ausgewiesen wurden.

Die Last der Stigmatisierung

“Die Schweizer mögen die Ausländer nicht. Sie würden lieber ganz alleine bleiben. Aber wir, wir sind für den Frieden gekommen”, sagt Fahad, ein Somalier. Er ist klar gegen die SVP-Initiative, aber auch gegen den Gegenvorschlag. Beide würden seiner Meinung nach zu einem negativen Bild der Ausländer führen.

“Weder die Initiative noch der Gegenvorschlag bringen etwas. Sie tragen nur dazu bei, dass die Ausländer noch mehr stigmatisiert werden”, sagt Nicole aus Kamerun, die ein Praktikum beim “Espace Mozaïk” absolviert.

Viele Ausländer fühlen sich abgestempelt. Denn einmal mehr hat die Abstimmungs-Kampagne den Schwerpunkt auf den Unterschied gelegt. “Wenn alle Ausländer perfekt integriert wären, was für Kampagnen könnte die Rechte dann führen?”, wirft Jamal ein. Er frage sich, was in seinem Fall geschehen würde, wenn er ein Delikt verüben würde, denn seine Mutter ist Schweizerin und der Vater aus Algerien.

Der Integration ist im Gegenvorschlag ein Artikel gewidmet. Darin wird unter anderen festgehalten, dass der Bund zusammen mit den Kantonen und Gemeinden regelmässig den Stand der Integration überprüft. Ein kurzer Abschnitt, der im “Espace Mozaïk” auf starken Widerstand stösst. “Ich bin nicht völlig integriert, mir fehlt dazu noch einiges. Deswegen bin ich aber noch lange kein Krimineller”, betont Avdic abschliessend.

Die Volksinitiative “Für die Ausschaffung krimineller Ausländer” wurde 2008 mit fast 211’000 gültigen Unterschriften eingereicht.

Ausländerinnen und Ausländer, die wegen bestimmter Straftaten verurteilt wurden oder die missbräuchlich Sozialleistungen bezogen haben, sollen alle Aufenthaltsansprüche verlieren und ausgewiesen werden.

Im Parlament lehnte sie eine Mehrheit der Abgeordneten ab: In der Schlussabstimmung sagte der Nationalrat mit 92 zu 82 Stimmen Nein, der Ständerat mit 26 zu 5 Stimmen.

Da es sich bei einer Volksinitiative immer um eine Verfassungsänderung handelt, kommt sie automatisch vors Volk.

Zudem bedingt eine Verfassungsänderung (Initiative wie auch Gegenvorschlag) zwingend das Volksmehr und das Ständemehr (eine Mehrheit der Kantone).

Der Initiative stellen der Bundesrat und eine Parlamentsmehrheit einen direkten Gegenvorschlag entgegen.

Dieser beschreibt Mindeststrafen, die ausgesprochen werden müssen, um eine Wegweisung zu rechtfertigen und schlägt einen Integrations-Artikel vor.

Im Nationalrat wurde dieses Begehren in der Schlussabstimmung mit 93 zu 88 Stimmen angenommen, im Ständerat mit 35 zu 6 Stimmen.

(Übertragung aus dem Französischen: Sandra Grizelj)

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