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Captain Xhaka über Ansprüche, Energieverluste und sein Urvertrauen

(Keystone-SDA) Vor seiner vierten Endrunde mit der Schweiz spricht der Arsenal-Mittelfeldspieler Granit Xhaka über Ansprüche und Wirklichkeit innerhalb der Nationalmannschaft.

Im Interview mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA erklärt der 28-jährige SFV-Captain, weshalb sich ein unschönes Ende wie an der WM in Russland in den kommenden Juni-Tagen nicht wiederholen wird.

Wales, Italien und die Türkei – was lösen diese Fussball-Nationen bei Ihnen aus?

Granit Xhaka: «Wir haben eine der schwierigsten Gruppen erwischt – neben jener mit Deutschland, Weltmeister Frankreich, Europameister Portugal und Ungarn; die hatten richtig Lospech. Die Türken haben einen erfolgreichen Umbruch hinter sich. Ihre aktuelle Generation besitzt richtig viel Talent und Qualität. Italien ist Italien. Ihre Erfahrung spricht für sie, diese Mannschaft ist stabil und erfolgreich. Wales hat an einer EM schon einmal alle überrascht.»

Apropos Wales: Die Premier-League-Ikone Ryan Giggs coachte das Team an die Endrunde und steht Wales nun wegen eines Gerichtsverfahrens nicht zur Verfügung. Waren die Probleme der Waliser auch in London ein Thema?

«Allzu vertieft haben wir das ehrlich gesagt nicht diskutiert. Mein Co-Trainer bei Arsenal (Albert Stuivenberg) ist bei Wales zweiter Assistent und kennt die Problematik natürlich. Von Vorteil ist die Geschichte für sie sicher nicht.»

Mit welchem Anspruch starten Sie zur Kampagne?

«Da brauchen wir nicht lange um den Brei herumreden: Unser Ziel ist eine Platzierung unter den ersten zwei. Alles andere wäre für mich eine grosse Enttäuschung.»

Eine Challenge wird das Flugprogramm. Die Schweizer Equipe wird während der Vorrunde innerhalb von etwas mehr als einer Woche über 9000 Kilometer Luftdistanz bewältigen.

«Italien tritt dreimal in Rom an, wir reisen hin und her. Wir haben das zu schlucken. Punkt! Auf diese Flüge kann man sich vorbereiten. Dann ist auch das machbar.»

Seit der EM 2004 hat die SFV-Auswahl nur eine von möglichen acht Endrunden verpasst, aber nie eine Viertelfinal-Qualifikation geschafft. Was wird nötig sein, um auch in dieser Kategorie unter die Top-Nationen vorzustossen?

«An der WM 2014 und in Frankreich 2016 haben wir das grosse Ziel um Haaresbreite verpasst. In Russland wurden wir von den Schweden gestoppt, weil wir vor allem mental kaputt waren. Was in den Tagen zuvor passiert war, ermüdete einige Spieler. Wir hatten damals auf allen möglichen Schauplätzen Energie verloren und waren am Tag X nicht mehr bereit. Die Nachwirkungen der aufwühlenden Partie gegen Serbien brachte die Mannschaft aus der Balance.»

Ein Energieverlust zur Unzeit.

«Vor Kurzem habe ich mir den Achtelfinal gegen Schweden noch einmal angeschaut. Mit ganz viel Abstand ist mir aufgefallen, wie platt wir ausgesehen haben. Natürlich war die Saison lang, klar kommt die Müdigkeit ins Spiel.»

Aber?

«Wie schon erwähnt: Wir waren im Kopf nicht frei. Wir haben uns vor dem Schweden-Spiel falsch verhalten, wir hätten viel früher einen Riegel schieben müssen – so, ab jetzt volle Konzentration aufs Sportliche. In schwierigen Situationen braucht es eine glasklare Kommunikation; dann sind Unklarheiten sofort vom Tisch, wir dagegen verschleppten sie. Ich trug in Russland Altlasten auf das Feld. Und das passiert mir nicht oft.»

Weshalb wird die Mannschaft kein zweites Mal in einen solchen Negativstrudel geraten?

«Wir sind alle reifer und in jeder Beziehung weiter als Team. Die für einen Turnierverlauf wichtigen Details sind abgespeichert. Der Kern der Gruppe arbeitet inzwischen seit Jahren zusammen. Man kennt sich gegenseitig und braucht sich nichts vorzumachen. Das Klima passt, die zwischenmenschliche Atmosphäre stimmt. Ich glaube, der Moment ist gekommen, um Geschichte zu schreiben. Wann denn, wenn nicht jetzt? Aber mit dieser Einstellung müssen wir immer auch den nötigen Respekt gegenüber dem Gegner mitbringen.»

Vladimir Petkovic regte unlängst an, der Mannschaft neben dem Feld etwas mehr Freiheiten einzuräumen. Wie ist dazu die Haltung des Captains?

«Der Coach gibt uns genügend Raum und Zeit, um sich zu erholen, um etwas Spass zu haben. Und ja, während der Corona-Zeit kann das Leben in der Bubble irgendwann eintönig werden. Da ist ein gutes Händchen aller Beteiligten hilfreich. Für uns sind der Spirit und Zusammenhalt vielleicht wichtiger als für Nationen, die von den Leistungen grossartiger Individualisten leben.»

Im Vergleich zum letzten Turnier vor knapp drei Jahren fehlen zwei Alphatiere: Der langjährige Captain Stephan Lichtsteiner und Valon Behrami sind nicht mehr dabei. Wer übernimmt den Part dieser beiden furchtlosen und unbequemen Antreiber?

«Ersetzen kann man diese beiden 1:1 sowieso nicht – das ist Fakt. Mit Steph und Valon haben wir zwei Mentalitätsmonster verloren. Ihre Art ist einzigartig. Dafür rückten Spieler nach, die schwierige Situationen auf dem Rasen mit ihren fussballerischen Fähigkeiten lösen können. Ob das auf der ganz grossen Bühne genügt, werden wir sehen.»

Klopft nun ein neuer Lichtsteiner auf den Tisch?

«Wir alle haben uns einiges von ihm abgeschaut. Und glauben Sie mir, es gibt auch jetzt noch genug Nationalspieler, die laut werden können und es angesichts ihrer Verdienste innerhalb des Teams auch dürfen und sollen.»

Noch ein Wort zur Offensive. Haris Seferovic, wie Sie einer der goldenen U17-WM-Generation von 2009, reist als zweitbester Torschütze der portugiesischen Liga an. Wie gut tut es, einen solchen Skorer im Team zu haben?

«Mich freut es in erster Linie für Haris. Wir kennen uns seit einer gefühlten Ewigkeit. Ich habe nie daran gezweifelt, dass er seinen Weg machen wird. Wer in drei Jahren zweimal über 20 Kisten macht, der muss einfach gut sein. Für das Nationalteam ist seine Formstärke ein Segen. Wir werden alles dafür tun, dass er sein Niveau halten kann. Wir brauchen seine Tore.»

Stichwort Form – in welcher Verfassung sind Sie? Hinter Ihnen liegen turbulente Monate. Arsenal hatte viele Downs zu verkraften. Privat hingegen schwebten Sie nach der Geburt der zweiten Tochter auf Wolke sieben.

«Ich fühle mich so gut wie kaum je zuvor. Meine Ziele sind riesig, die Erwartungen an mich selber sind ebenfalls sehr gross. Ich will die Mannschaft führen und für alle ein offenes Ohr haben. Für die jungen Mitspieler will ich ein Vorbild sein – vor, während und nach den Spielen. Ich bin seit elf Jahren im Geschäft und werde weiterhin hart an mir arbeiten. Bequem mache ich es mir ganz sicher nicht.»

Sie hatten in London einigen Widerstand auszuhalten in den letzten zwei Jahren. Sind Sie krisenresistenter denn je?

«Es braucht enorm viel, um mich aus der Bahn zu werfen. Das wissen meine Mitspieler – und auch meine Gegner. Ich bin in meiner Karriere immer wieder zurückgekommen. Auf den Boden lasse ich mich von niemandem drücken. Dieses Urvertrauen gibt mir Kraft.»

Sie führen das Nationalteam zum ersten Mal als Captain an ein Turnier.

«Ich bin seit bald elf Jahren dabei. An einer EM Captain dieser Auswahl zu sein und unser Land vertreten zu dürfen, macht mich extrem stolz. Wenn ich daran denke, mit wem ich schon alles die Kabine teilen durfte, ja, dann spüre ich ein grosses Glücksgefühl, eine gewaltige Vorfreude.»

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