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Wer in Zürich eine städtische Mietwohnung erhält, knackt den Millionen-Jackpot

Der eingerüstete Ersatzneubau Hardau 1.
Die städtische Siedlung Hardau 1 in Zürich steht kurz vor der Fertigstellung. Eine 4,5-Zimmer-Wohnung kostet hier 1860 Franken - ein Schnäppchen. Keystone / Christian Merz

Tausende profitieren in Zürich von günstigen städtischen Wohnungen, doch längst nicht alle Mietenden erfüllen die dafür vorgesehenen Bedingungen der Stadt. Jetzt will Zürich durchgreifen, verschont aber weite Kreise.

1860 Franken brutto für eine 4,5-Zimmer-Neubauwohnung an zentraler Lage: Auf dem überhitzten Zürcher Wohnungsmarkt klingt das wie ein Fake-Inserat.

Hinter dem Angebot steckt aber kein Betrüger, sondern die Stadt Zürich. Die Wohnung ist Teil der neu gebauten Siedlung Hardau 1, die die Stadt zum Selbstkostenpreis vermietet – der sogenannten Kostenmiete.

Die tiefen Preise sind möglich, weil die Stadt das Land schon in den Sechzigerjahren erworben hat und mit der damaligen Beschaffung kalkuliert.

Der Boden ist der grösste Preistreiber in Zürich. Seit Mitte der Siebzigerjahre hat sich der Preis pro Quadratmeter Bauland verzwölffachtExterner Link.

Im freien Markt würde dieselbe Wohnung denn auch das Dreifache kosten. Auf 25 Jahre gerechnet, sparen Mieterinnen und Mieter einer städtischen Wohnung also eine Million Franken – oder sogar 1,5 Millionen, wenn man eine moderate Verzinsung einrechnet.

Entsprechend gross ist das Interesse an diesen Wohnungen. Wie auch der Neid jener, die leer ausgehen. Sie fragen sich, ob es denn immer die Richtigen sind, die von diesem Angebot profitieren.

Die Wohnungsnot in Zürich ist gravierend, selbst im Vergleich mit den grosssen Metropolen der Welt:

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Die Multimillionärin, die alles ins Rollen brachte

Die Frage ist heute aktueller denn je. Denn die Stadt Zürich plant die grösste Räumung in ihrer Geschichte: Wer die städtischen Auflagen nicht erfüllt, soll nicht länger von einer städtischen Wohnung profitieren. Erste Massnahmen werden in diesem Jahr umgesetzt.

Ausgelöst hat all das ein Zeitungsartikel vor über zehn Jahren. 2014 berichtete der Tages-AnzeigerExterner Link, dass eine vermögende Zürcher SVP-Gemeinderätin eine günstige städtische Wohnung als Zweitwohnsitz nutzte – in Ergänzung zu ihrer Villa in Uster.

«Ist es wirklich Aufgabe der Stadt, Multimillionärinnen zur Kostenmiete zu beherbergen?», fragten viele irritiert. Die Diskussion war lanciert, und weitere Fälle wurden öffentlich.

Politisches Resultat war ein neues Mietreglement. Darin schrieb die Stadt eine Mindestbelegung vor, definierte eine Wohnsitzpflicht und Obergrenzen für das Einkommen.

In Kraft getreten sind die neuen Regeln schon 2019, jedoch mit einer Übergangsfrist von 5 Jahren. Für zusätzliche Verzögerung sorgten Rekurse: Eine Frau, die allein in einem 6-Zimmer-Haus wohnte, zog bis vor die höchste Instanz und unterlag.

Das Bundesgericht schrieb in seinem UrteilExterner Link von Mitte 2024, die Stadt Zürich habe angesichts der Wohnungsnot ein legitimes Interesse daran, städtischen Wohnraum sozial gerecht an die Mietenden zu bringen.

Mehr als jede siebte Wohnung unterbelegt

Mit dem Bundesgerichtsentscheid wurde der Weg für die Stadt Zürich frei, sämtliche Mietverhältnisse zu überprüfen.

Wie sie in der Folge öffentlich mitteilte, sind von 7400 Wohnungen, die zur Kostenmiete angeboten werden, 1100 unterbelegt. 150 davon stark.

Mit diesen 150 Mietverhältnissen will die Stadt anfangen. Gleichzeitig wird bei rund 100 Wohnungen geprüft, ob die Wohnsitzpflicht erfüllt ist. Dann werde man sich den weiteren Unterbelegungen zuwenden.

Noch länger auf sich warten lässt die Prüfung der Einkommensverhältnisse. Ein Grund dafür ist, dass die Stadt zur Berechnung Steuererklärungen aus drei verschiedenen Jahren heranzieht, alle aus der Zeit nach der Übergangsfrist.

Die Staffelung der Massnahmen erfolgt aber auch aus anderen Gründen: Es gehe darum, Ersatzwohnungen für die Betroffenen zu suchen, sagt Kornel Ringli, Sprecher von Liegenschaften Stadt Zürich.

Wer zum Beispiel zu viele Zimmer bewohnt (zulässig ist ein Zimmer mehr als Bewohnende), soll von der Stadt zwei Ersatzangebote erhalten. Erst wenn diese abgelehnt werden, kommt es zur Kündigung.

«Die Kündigung ist für uns die Ultima Ratio», so Ringli. «Sie ist nicht das Ziel, wir wenden viel Zeit und Arbeit auf, um Leute umzuplatzieren.»

Für Härtefälle gelten grosszügige Ausnahmen. Beispielsweise wird bei Trennungen in Familien der Partner für die Belegung mitgezählt, auch wenn er ausgezogen ist, und das bis zur Volljährigkeit der Kinder.

Selbst wer 300’000 Franken verdient, wird geschont

Weit gefasst ist die Rücksichtnahme auch bei den Einkommensgrenzen. Eigentlich gilt die Regel, dass das steuerbare Einkommen beim Bezug der Wohnung nicht mehr als das Vierfache der Mietkosten betragen darf. Später darf es nicht auf mehr als das Sechsfache anwachsen.

Aber: Die Stadt Zürich drückt bei bis zu 15% ihrer Mieterinnen und Mieter ein Auge zu.

Erst wenn der Anteil jener, die zu viel verdienen, höher liegt, wird die Stadt aktiv. Die Fälle sollen dann, beginnend beim höchsten Einkommen, abgearbeitet werden, bis das 15-Prozent-Ziel erreicht ist.

Begründet wird dieser Toleranzwert mit der sozialen Durchmischung, damit, dass man der Ghettoisierung vorbeugen wolle.

Das geht so weit, dass die Stadt selbst Gutverdienenden Ersatzwohnungen anbietet – bis zur Grenze eines steuerbaren Einkommens von 230 000 Franken pro Jahr.

Das entspricht bei Familien einem Brutto-Einkommen von 300’000 bis 320’000 Franken – mehr als dem Doppelten des kantonalen Durchschnitts.

Selbst wer so viel verdient, soll in Zürich also weiterhin in einer städtischen Wohnung zur Kostenmiete leben können, im Interesse der Durchmischung.

Mieterverband stört sich an neuen Compliance-Richtlinien

Ist das sozialverträglich, ist das fair? Walter Angst vom Mieterverband der Stadt Zürich kann mit diesen Fragen wenig anfangen.

Walter Angst
Walter Angst vom Mieterinnen und Mieterverband Zürich Keystone / Ennio Leanza

Sein Verband stand dem Mietreglement kritisch gegenüber. Heute ist man zufrieden mit der Umsetzung: «Entscheidend für uns war, dass Härtefälle berücksichtigt werden und man sinnvolle Ersatzangebote macht.»

Angst, der 2019 bei der Verabschiedung der neuen Vermietungsverordnung – die dem Reglement zugrunde liegt –, für die linke Alternative Liste im Gemeinderat sass, kritisiert einzig die neuen Compliance-Richtlinien. «Man lässt den Bewirtschafterinnen wenig Spielraum, aus Angst vor Beziehungskorruption. Aber die kann es immer geben.»

Mehrfach wurden in den letzten Jahren Fälle öffentlich, in denen Wohnungen ohne Ausschreibung vergeben wurden, auch an Politiker und Verwaltungsangestellte. Das Reglement definiert darum auch Ausstandspflichten.

Ein Monitoring, wie viele Politikerinnen und städtische Angestellte unter ihren Mietenden zu finden sind, führt die Stadt hingegen nicht, wie Ringli bestätigt.

Dominanz einer kleinen urbanen Elite

Christian Hilber, Immobilienökonom der Universität Zürich und der London School of Economics, sieht im Zürcher Vorgehen vor allem Anzeichen einer Besitzstandswahrung und damit den Erhalt von Privilegien einer kleinen, gut informierten Gruppe.

Christian Hilber, der Professor für Wirtschaftsgeografie ist ein Experte für Wohnungskrisen.
Christian Hilber, Immobilienökonom. zVg

«Staatliche Wohnungen gehen oft nicht an jene, die sie am nötigsten haben, sondern an diejenigen, die besser informiert, besser vernetzt oder einfach ausdauernder sind», sagt Hilber. Das öffentliche Wohnungswesen schaffe ein System von Insidern und Outsidern, mit komplett unterschiedlichen Bedingungen.

Beispiele dafür gebe es in vielen Ländern, etwa in Österreich, Frankreich oder im Vereinten Königreich. «In den Niederlanden zum Beispiel wird Sozialwohnraum über Wartelisten vergeben, die sich über Jahre hinziehen können. Dies begünstigt die ‹Cleveren›, welche sich bereits früh anmelden, manchmal schon als Teenager», so Hilber. In anderen Ländern gebe es Punktesysteme. Wer sich damit auskenne, könne seine eigene Bewerbung um eine staatliche Wohnung daraufhin optimieren.

Dass solche Systeme Reformen überdauern, hat für Hilber unter anderem politisch-ökonomische Gründe. Er zitiert den US-Ökonomen Mancur Olson, der zeigen konnte, dass es kleinen, gut organisierten Gruppen mit stark konzentrierten Interessen überproportional häufig gelingt, politischen Einfluss auszuüben.

Tatsächlich passierte die neue Mietverordnung im Zürcher Gemeinderat 2018 ohne eine einzige Gegenstimme. Das Stadtparlament, darunter viele gut situierte Akademikerinnen und Akademiker, wahrte nach dieser Lesart seine eigenen Interessen.

Daneben sieht Hilber auch ethische oder wohlfahrtsökonomische Gründe für das Zürcher Vorgehen: «Das einmal erworbene Nutzungsrecht an einer Wohnung gilt gesellschaftlich vielfach als quasi unveräusserlich.»

Die Unsicherheit, eine Wohnung zu verlieren, schaffe ein Unbehagen, auch für Bessergestellte. Hingegen wirke das von der Stadt Zürich vorgebrachte Argument der «sozialen Durchmischung» eher vorgeschoben.

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Wie eine Systemkorrektur aussehen könnte

Ein möglicher Ausweg aus den Problemen in Zürich wären für Hilber variable Mietzinse, die an die Einkommen gebunden sind. Das wäre gleichbedeutend mit einer Umstellung von einer Objekt- auf eine Subjektsubventionierung.

Anders als heute, würde Erfolg im Beruf, etwa eine Beförderung, die Wohnsituation der Mietenden der Stadt dann nicht weiter gefährden. Gleichzeitig würden Topverdienende nicht weiter von tiefen staatlichen Mietpreisen profitieren.

Das zusätzliche Geld, das die Stadt so einnehmen würde, könnte sie zweckgebunden verwenden, etwa zur Finanzierung von Mietnachlässen für Bedürftige oder für die Wohnbauförderung respektive den Landerwerb.

Politische Antworten auf die Wohnungsnot gibt es viele, aber welche haben den gewünschten Nutzen? Wir haben in diesem Artikel Beispiele verglichen, von Wien bis Singapur:

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Ein solches System wäre denkbar, sagt dazu Ringli von den Immobilien der Stadt. Das sei aber nicht der politische Auftrag und es gebe im Moment keine politischen Diskussionen in die Richtung.

Walter Angst vom Mieterverband lehnt einen Systemwechsel kategorisch ab. Er sieht in jeder Abweichung von der Kostenmiete die Gefahr, dass Mieteinnahmen für den städtischen Haushalt genutzt werden könnten, wie es liberale Kreise fordern.

Angst sagt: «Der grösste Fluch in Zürich ist, dass der Neid so zugenommen hat, weil die Mieten derart gestiegen sind. Die Menschen haben Angst, dass wenn sie aus ihren Wohnungen müssen, sie mit ihrem Einkommen nichts mehr finden.»

Der Mieterverband hat darum zwei Initiativen lanciert. Davon zielt eine auf eine staatlich durchgeführte Mietpreiskontrolle bei privaten Immobilienbesitzerinnen und -besitzern. Die andere verlangt, den staatlichen Wohnungsbau auszuweiten.

Das Problem von Insidern und Outsidern im öffentlichen Wohnungswesen adressiert der Verband nicht.

Die Wohnungsnot betrifft längst die ganze Schweiz, hier werfen wir einen Blick auf die wichtigsten Kennzahlen:

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