Die Reform der Volksrechte ist in der Schweiz praktisch ein politisches Tabu. Jüngst hat die Bürgerlich-Demokratische Partei einen neuen Vorstoss lanciert: Für eine Volksinitiative sollen neu bis 250'000 statt 100'000 Unterschriften nötig sein. So will die BDP die "Initiativenflut" senken. Der Zürcher Politologe Sandro Lüscher weist den Vorschlag klar ab.
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
4 Minuten
Sandro Lüscher forscht am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich über direkte Demokratie und ihre direkten und indirekten Wirkungen auf Politik und Gesellschaft.
Die direktdemokratischen Institutionen, wie wir sie heute kennen, waren kein «Verfassungsgeschenk» der Gründerväter des modernen schweizerischen Bundesstaates anno 1848, sondern wurde gegen die herrschenden Kräfte des politischen Systems erstritten und schrittweise ausgebaut.
Obwohl sich die direktdemokratischen Institutionen längst zu einem integralen Bestandteil unserer politischen Identität gefestigt haben, ist die Kritik an ihnen keineswegs verstummt. Im Gegenteil: Die Kritik an den Volksrechten nimmt immer unversöhnlichere Töne an.
Obschon eine kritische Auseinandersetzung mit der direkten Demokratie – zumal für deren Weiterentwicklung – durchaus begrüssenswert ist, so lässt sich bedauerlicherweise feststellen, dass oft mit Halbwissen für die Einschränkung der Volksrechte argumentiert wird. Das ist gefährlich und verhindert eine sachdienliche Debatte.
Als jüngstes Beispiel lässt sich die Forderung der BDP nach der Erhöhung des Unterschriftenquorums für Volksinitiativen und Referenden nennen. Ihr Parteipräsident Martin Landolt diagnostiziert eine generelle Abstimmungsmüdigkeit in der Bevölkerung und fordert flugs, man solle haushälterischer mit den demokratischen Freiheiten umgehen. Zudem führe es zu einer «zunehmenden Unberechenbarkeit des Standorts Schweiz, wenn die Erfolgsfaktoren vierteljährlich zur Disposition gestellt werden», zitiert Landolt besorgte Unternehmer am kürzlichen Swiss Economic Forum.
Mehr
Mehr
Reden Sie mit!
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Die Reform der Volksrechte ist in der Schweizer Demokratie ein politisches Tabu. In den letzten knapp 40 Jahren sind alle grösseren Vorschläge gescheitert. Jetzt fordert die BDP eine markante Erhöhung der Unterschriftenzahl für eine Initiative. Das sind die beiden Standpunkte Pro und Kontra, die wir publiziert haben. Diskutieren Sie mit uns unten in den Kommentaren! Die…
Dabei verkennt Landolt, dass die Volksrechte selber einen ziemlich einzigartigen Erfolgsfaktor unseres Landes darstellen, indem sie Politik und Wirtschaft gesellschaftlich erden und so zu einer hohen Systemstabilität und -zufriedenheit beitragen. Eine weitere falsche Prämisse in der gegenwärtigen Debatte ist die angebliche «Initiativenflut». Obschon die Anzahl lancierter Initiativen in den letzten Jahren zugenommen hat, so ist die Anzahl tatsächlich abgestimmter Initiativen ziemlich konstant geblieben.
Viele Initiativen versanden bereits im Stadium der Unterschriftensammlung. Es wurde also für die Initiativkomitees trotz Bevölkerungswachstum und Digitalisierung der Medien und politischen Kommunikation nicht einfacher, an Unterschriften zu kommen, wie dies oft suggeriert wird.
Doch was mich eigentlich noch mehr beunruhigt als Falschargumente ist die Vorstellung, wonach eine vitale Abstimmungsdemokratie den Motor unseres politischen Systems zum Überhitzen bringe. Volk, Parteien und Institutionen seien für hohe Abstimmungsfrequenzen nicht kalibriert, was zur Abnutzung der Volksrechte führe, so der Tenor.
Im Gegensatz zu jenen, die die lebhaften direktdemokratischen Auseinandersetzungen als eine lästige Zumutung empfinden, sie sogar als eine potenzielle Gefahr für die demokratische Grundordnung denunzieren und der direkten Demokratie auf Teufel komm raus die Flügel stutzen wollen, sehe ich gerade im Abstimmungspluralismus einen Mehrgewinn. So haben wir das Privileg, über die unterschiedlichsten Sachthemen zu diskutieren und auf der Basis dieser dialektischen Prozedur politisch verbindliche Entscheidungen zu fällen. Nicht nur über solche, die von ohnehin mächtigen Politkateuren rühren, sondern gerade auch über Anliegen von Minderheiten.
Zudem ist eine vitale direkte Demokratie aus meiner Optik ein Beweis dafür, dass unser politisches System funktioniert. Sorgen sollte man sich viel eher machen, wenn wegen völlig realitätsfernen Unterschriftenquoren nur noch finanzpotente Interessengruppen den Takt und die Agenda unserer Abstimmungsdemokratie bestimmen.
Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.
Frage an Sie: Sind 250’000 Unterschriften eine Schwächung der Volksrechte? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren!
Beliebte Artikel
Mehr
Swiss Abroad
So leben die Empfänger von Kinderrenten in Thailand
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch
Mehr lesen
Mehr
Höhere Unterschriftenzahl zum Schutz der Volksrechte
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Die Fraktion der Bürgerlich-Demokratischen Partei der Schweiz (BDP) lanciert den Vorschlag, die Unterschriftenzahlen für Volksinitiativen und Referenden in der Schweiz spürbar zu erhöhen und diese künftig nicht mehr als absolute Zahlen zu definieren, sondern als Prozentangabe in Relation zu den Stimmberechtigten. Der Kanton Genf beispielsweise hat die Unterschriftenzahl für Initiativen bei 4 Prozent der Stimmberechtigten…
Höhere Unterschriftenzahl? Mehr digitale Demokratie!
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
In der Schule lernen wir, dass eine Volksinitiative 100’000 Unterschriften benötigt. Diese Zahl ist nicht in Stein gemeisselt, wie die Forderung von BDP-Präsident Martin Landolt zeigt. Er verlangt eine Erhöhung auf 150’000 bis 250’000 Unterschriften. Wer wie BDP-Präsident Martin Landolt die Latte höher legen will, warnt vor der «Initiativenflut», die das reibungslose Funktionieren der Schweiz…
An Volksrechten herumzuschrauben, löst das Grundproblem nicht
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Wie das Unkraut nach dem Sommerregen spriessen in der letzten Zeit im helvetischen Gärtchen die Verschwörungstheorien: Geheimpapiere, heimliche Absprachen, geheime Arbeitsgruppen, unheimliche Machenschaften. Populistische Politiker setzen sie in die Welt, willfährige Medien machen damit ihr Geschäft, und leichtgläubige Menschen fallen darauf herein. Wir sollten die Inhalte solcher Gerüchte nicht allzu ernst nehmen, ernster jedoch das…
Die Volksinitiative, eine kaum reformierbare heilige Kuh
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Fünfzehn Initiativen, über die das Schweizer Stimmvolk noch abstimmen muss, ungefähr noch einmal so viel, deren Unterschriftensammlung noch läuft: Kaum je gab es in der Schweiz eine solch grosse Anzahl an Volksinitiativen. Dazu kommt, dass die Annahmequote in den vergangenen zehn Jahren markant zugenommen hat. Von den 22 Initiativen, die seit 1891 angenommen wurden, hiess…
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Was genau macht die Volksinitiative aus? Ist sie ein Unikum oder hat sie Verwandte in anderen Ländern? Die swissinfo.ch-Animation gibt die Antworten.
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Samstagnachmittag auf dem Bärenplatz in Bern. An diesem belebtesten Platz der Schweizer Hauptstadt rechnen sich Unterschriftensammler für verschiedenste Volksinitiativen die besten Chancen auf einen Erfolg aus. Für die unterschiedlichsten Anliegen wurden auf diesem Platz in Sichtweite des Parlamentsgebäudes bereits Unterschriften gesammelt. Andy Tschümperlin kennt diese Szene gut. Oft war er einer dieser Unterschriftensammler. «Ich habe…
«Man sollte sich nicht in Verfassungsreformen stürzen»
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Nach einer Ämterlaufbahn, die ihn von seiner Gemeinde Martigny im Wallis bis an die Spitze des Bundesstaates führte, ist Pascal Couchepin ein ausgewiesener Kenner des politischen Lebens in der Schweiz. Seit er 2009 aus der Regierung zurückgetreten ist, äussert er sich bis heute häufig zu dem Thema. Das Interview wurde unterwegs zum Europa Forum in…
Wie aus Wahlkampf-Lokomotiven Rohrkrepierer wurden
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
«Schluss mit Wahlkampinitiativen», fordert der Blick und stellt fest, dass «die Mitte seit Jahren neidisch nach rechts» schiele: Auf die Schweizerische Volkspartei (SVP), die mit ihren Kampagnen immer wieder Mehrheiten im Volk finde. «Das möchten alle andern auch, aber sie können es nicht wirklich.» Ausgerechnet die Mitteparteien, die «sich gerne rühmen, Mehrheiten zu schaffen und…
Ihr Abonnement konnte nicht gespeichert werden. Bitte versuchen Sie es erneut.
Fast fertig... Wir müssen Ihre E-Mail-Adresse bestätigen. Um den Anmeldeprozess zu beenden, klicken Sie bitte den Link in der E-Mail an, die wir Ihnen geschickt haben.
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch