
Hat es in den Schweizer Gefängnissen wirklich 72% Ausländer, wie Trump behauptet?

Donald Trump bediente sich in einer Rede vor der UNO der Schweiz, um die «Undankbarkeit von Migrantinnen und Migranten gegenüber ihrem Gastland» zu kritisieren. Er behauptete, 72% der Inhaftierten in Schweizer Gefängnissen seien Ausländer:innen. Zwar stimmt die Zahl, doch die Art und Weise, wie der US-Präsident sie verwendet, ist vereinfachend und irreführend. Eine Einordnung.
Die Überrepräsentation von Ausländer:innen in der Kriminalitätsstatistik ist ein weltweites Phänomen. Sie lässt sich in allen Staaten beobachten. Kriminalität oder Delinquenz allein mit der Nationalität zu erklären, ohne den juristischen, sozioökonomischen oder demografischen Kontext zu berücksichtigen, greift jedoch zu kurz.
Das Thema in der Sendung La Matinale von RTS (auf Französisch):
Die Rolle der Justiz
In der Schweiz gibt es mehrere strukturelle Gründe, die den Wert von 72% ausländischen Inhaftierten erklären. Ein wesentlicher Faktor ist, dass ausländische Gefangene ihre Strafe nicht ausserhalb des Gefängnisses verbüssen können.
«Ausländer haben oft keinen festen Wohnsitz in der Schweiz. Sie können deshalb weder von elektronischen Fussfesseln oder Hausarrest profitieren noch gemeinnützige Arbeit leisten», sagt André Kuhn, Professor für Strafrecht an der Universität Neuenburg, in der Sendung La Matinale von RTS. «Das Recht selbst schafft hier eine gewisse Diskriminierung.»
Häufiger in Untersuchungshaft
Auch in der Untersuchungshaft sind Ausländer:innen überproportional vertreten. «Sie werden häufiger vor einem Urteil inhaftiert, weil man befürchtet, dass sie fliehen könnten. Deshalb kommen sie öfter in Untersuchungshaft», sagt Kuhn. Zur Erinnerung: Personen in Untersuchungshaft gelten rechtlich als unschuldig, obwohl sie faktisch eingesperrt sind.
Am 31. Januar 2025 befanden sich laut Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS) von 6994 Inhaftierten 2211 in Untersuchungshaft. Weitere 1199 sassen in «vorzeitigem Straf- oder Massnahmenvollzug» – sie sind noch nicht verurteilt, gelten juristisch als unschuldig, haben aber aus verschiedenen Gründen beantragt, ihre Strafe bereits anzutreten.
Unter den 2211 Personen in Untersuchungshaft hatten 79% eine ausländische Staatsangehörigkeit. Seit Beginn der Erhebungen 1988 ist das die höchste Zahl an Inhaftierten in dieser Kategorie.
Diese Entwicklung verstärkt die Überrepräsentation von Ausländer:innen – juristisch unschuldig – in den Gefängnisstatistiken zusätzlich. Schweizer:innen dagegen können in vielen Fällen bis zum Urteil in Freiheit bleiben und tauchen deshalb nicht in dieser Statistik auf.
Spezifische Gesetze für Ausländer:innen
Kuhn nennt zwei weitere Erklärungen: «Es gibt Straftatbestände, die nur Ausländerinnen und Ausländer betreffen.» Dazu gehören etwa 220 Personen, die unter «Zwangsmassnahmen nach dem Ausländer- und Integrationsgesetz» erfasst sind. In den meisten Fällen handelt es sich um Ausschaffungsverfahren abgewiesener Asylsuchender.
Ausländische Häftlinge, die nach Verbüssung ihrer Strafe ausgeschafft werden, können zudem nicht von einer bedingten Entlassung profitieren. «Ausländer bleiben länger im Gefängnis als Schweizer», resümiert Kuhn.
Demografische Struktur
Hinzu kommt die Bevölkerungsstruktur: In der ausländischen Bevölkerung sind junge Männer überdurchschnittlich vertreten. Weltweit repräsentieren junge Männer zwei demografische Gruppen mit dem höchsten Risiko, Straftaten zu begehen.
Da die ausländische Bevölkerung in der Schweiz wegen höherer Geburtenraten und überwiegend männlicher Migration mehr junge Männer umfasst, überrascht es nicht, dass diese Gruppe auch in Gefängnissen überrepräsentiert ist.
Sozioökonomische Ungleichheiten
Sozioökonomische Unterschiede erhöhen zusätzlich das Risiko von Kriminalität, etwa im Bereich der Überlebenskriminalität. Ausländische Bevölkerungsgruppen sind häufiger in bescheidenen sozialen Schichten oder in der «unteren Mittelschicht» vertreten. Laut Asile.ch entstehen aus diesen Milieus rund 60% der Kriminalität.
Bestimmte Delikte wie Diebstahl oder Strassendeals werden zudem stärker verfolgt als andere, etwa Wirtschaftskriminalität oder sogenannte «White Collar»-Delikte. Die NGO Public Eye bezeichnet die Schweiz gar als «Paradies für Wirtschaftskriminalität».
Bildung als entscheidender Faktor
Auch das Bildungsniveau spielt eine zentrale Rolle. Während nur etwa die Hälfte der Schweizer Bevölkerung einen «einfachen» Ausbildungsstand hat (Primarschule, Sekundarschule, Berufsschule, Lehre), lag dieser Anteil 2013 bei rund 68% der inhaftierten Personen.
Erschwerend kommt hinzu, dass auch rassistische Vorurteile innerhalb von Polizei und Justiz eine Rolle spielen können. Ein Bericht des Bundes vom August weist auf ungenügende Massnahmen gegen strukturellen Rassismus in Justiz und Polizei hin. Ab 2026 soll eine nationale Strategie greifenExterner Link.
Und was bedeutet nun die Nationalität?
Bei Straftaten verbinden sich diese erklärenden Faktoren, verstärken sich gegenseitig, gleichen sich aus und schliessen sich manchmal gegenseitig aus.
In einem Artikel in der Zeitschrift Vivre Ensemble sagt Kuhn, dass man «den jeweiligen Anteil jeder einzelnen Variable bestimmen» müsse. Dafür sei es nötig, alle erklärenden Faktoren in ein Modell einzubeziehen, um zu sehen, welche Variable den grössten Teil erklärt und welchen Zusatzbeitrag andere leisten.
Demnach ist das Geschlecht die wichtigste Variable. «Mann statt Frau zu sein, ist der stärkste Vorhersagefaktor für die Begehung einer Straftat», sagt Kuhn. An zweiter Stelle folgt das Alter, an dritter der sozioökonomische Status, an vierter die Bildung.
Der seltene Fall der «Brutalisierung»
Die Nationalität erklärt in der Regel keinen zusätzlichen Teil der Kriminalität. Nur in seltenen Fällen kann sie, nach Geschlecht, Alter, sozioökonomischem Status und Bildung, eine fünfte erklärende Variable sein. Dies betrifft besonders Migration aus Kriegsgebieten.
Das Erleben extremer Gewalt kann Betroffene «desensibilisieren» und selbst gewaltbereiter machen – ein in der Kriminologie bekanntes Phänomen namens «Brutalisierung». Es kann ebenso durch Gewalt im Aufnahmeland ausgelöst werden, etwa durch Polizeigewalt, harte Grenzregime oder die Todesstrafe und Waffenverehrung wie in den USA.
Gerade deshalb sei es wichtig, Kriegsflüchtlinge besonders sorgfältig zu betreuen, so Kuhn. Ein Beispiel dafür ist das Ambuluatorium des Schweizerischen Rotkreuzes für Folter- und KriegsopferExterner Link.
Übertragung aus dem Französischen mithilfe Deepl: Janine Gloor

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