Schweizer Sperma in der Krise
Schweizer Forschende belegen erstmals: Die Spermaqualität variiert je nach Region. Wie lässt sich das erklären?
Wie schlecht steht es um die Spermaqualität junger Schweizer Männer? Zwei von drei Schweizer Männern haben eine suboptimale Samenqualität. Ihr Sperma erfüllt nicht alle WHO-Kriterien.
Die Untersuchung des Spermas von tausenden Schweizer Rekruten zeigte zudem: Jeder sechste junge Schweizer hat so wenig Spermien, dass eine natürliche Empfängnis schwierig sein kann.
Das Bundesamt für Gesundheit warnt: Das sei besorgniserregend und Fruchtbarkeit ein Problem der öffentlichen Gesundheit.
Mehrere internationale Forschende sprechen von einer Gesundheitskrise. Laut einer bekannten Studie haben Männer rund um den Globus heute nur noch halb so viele Spermien wie noch in den 1970er Jahren.
Wie dramatisch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte tatsächlich war, ist allerdings umstritten. Gewisse Studien verweisen auf eine lückenhafte Datenlage.
Gutes oder schlechtes Sperma ist von drei Kriterien abhängig:
- Spermienzahl: Wie viele Millionen Spermien hat ein Mann in einem Samenerguss?
- Form: Wie hoch ist der Anteil normal geformter Spermien?
- Beweglichkeit: Wie gut bewegen sich die Spermien?
Sind alle diese drei Faktoren eingeschränkt, kann ein Mann unfruchtbar sein. Das heisst, es ist für ihn schwierig bis unmöglich, auf natürlichem Weg ein Kind zu zeugen.
Neue Forschung zeigt regionale Unterschiede
Rita Rahban hat die Rekruten-Studie durchgeführt und 2019 publiziert. Sie ist Biologin an der Universität Genf und forscht seit Jahren zu männlicher Reproduktionsgesundheit.
Gemeinsam mit Forschenden der ETH-Lausanne hat sie nun eine neuartige statistische Methode angewandt, um die Werte aus der Rekruten-Studie erneut zu analysieren. Dank dieser zeigt sich plötzlich: Die Samenqualität in der Schweiz ist nicht gleichmässig verteilt. Stattdessen lassen sich auffällige Cluster erkennen.
Diese neue Regionen-Studie wurde Ende September im renommierten Fachmagazin «Human Reproduction» veröffentlicht und liegt SRF Investigativ vor.
In einem Cluster südöstlich der Stadt Bern gibt es Männer mit vergleichbar tieferer Samenqualität.
In einem Cluster bei der Stadt Aarau gibt es eine Gruppe Männer mit höherer Samenqualität als anderswo in der Schweiz.
Aber wie lassen sich diese Cluster erklären? Die Forschenden glichen die beiden Gebiete mit verschiedenen Datensätzen des Bundes ab: Eine Korrelation fanden sie mit der Landnutzung. Im negativen Cluster zwischen Bern und Thun sind die Männer von deutlich mehr Ackerbau umgeben; im positiven Cluster von deutlich mehr Siedlungen.
«Wahrscheinlich das Erste, was einem in den Sinn kommt, wenn man über Landwirtschaft spricht, sind Pestizide», sagt Rahban. «Aber wir wissen es schlicht nicht.» Dafür wären breiter angelegte Studien nötig, so die Forscherin.
Was verschlechtert die Samenqualität?
Fakt ist: Gewisse Substanzen in Pflanzenschutzmitteln können sich erwiesenermassen auf die Entwicklung von Sexualorganen und auch die Samenqualität auswirken. Laut Toxikologinnen und Toxikologen könnten aber zum Beispiel auch Schwermetalle im Dünger oder Hormone von Milchkühen eine Rolle spielen.
Hinzu kommt, dass es zahlreiche Faktoren gibt, welche die Samenqualität beeinflussen. «Alles, was der Gesundheit allgemein zusetzt, wirkt sich auch auf die Spermien aus», sagt Biologin Rahban.
Ändert ein Mann sein Verhalten, hört etwa auf zu rauchen, dürfte er bereits nach drei Monaten eine Veränderung seiner Samenqualität sehen. Dazu kommen Faktoren, die ein Mann wenig oder gar nicht beeinflussen kann. Wie gut seine Spermien sind, entscheidet sich etwa schon vor der Geburt. Durch die Genetik der Eltern und Einflüsse im Mutterleib.
Rauchen
Tabak enthält Giftstoffe, welche sich negativ auf die Samenqualität auswirken.
Alkoholkonsum
Viel Alkohol kann die Qualität des Spermas verschlechtern.
Übergewicht
Fettleibigkeit kann den Hormonhaushalt und damit auch die Samenqualität verändern.
Hitze
Spermien mögen keine Hitze. Sauna, heisse Bäder oder enge Unterhosen können ihnen zusetzen.
Genetik
Für die Spermienproduktion sind viele Gene im Einsatz. Gendefekte haben deshalb einen grossen Einfluss.
Einflüsse als Fötus
Wenn die Mutter während der Schwangerschaft raucht oder etwa Chemikalien ausgesetzt ist, kann das eine negative Wirkung haben.
Hormonaktive Chemikalien
Endokrin aktive Stoffe können den Hormonhaushalt stören.
Schwermetalle
Schwermetalle können menschliche Zellen stressen und so auch Spermien schädigen.
Forscherin Rahban konnte aufzeigen: Söhne von Bäuerinnen, Coiffeusen und Reinigungskräften, die während ihrer Arbeit potenziell hormonaktiven Substanzen wie Pestiziden oder Reinigungsmitteln ausgesetzt waren, haben tendenziell eine niedrigere Spermienqualität.
Forscherin Rahban konnte aufzeigen: Söhne von Bäuerinnen, Coiffeusen und Reinigungskräften, die während ihrer Arbeit potenziell hormonaktiven Substanzen wie Pestiziden oder Reinigungsmitteln ausgesetzt waren, haben tendenziell eine niedrigere Spermienqualität.
Chemikalien oder andere Schadstoffe in der Umwelt können nicht nur die Samenqualität bei einem Fötus vorbestimmen, sie können auch das Sperma beim erwachsenen Mann verschlechtern.
Doch welche Umweltfaktoren wirken wie stark? Bei dieser Frage stehen auch die Forschenden an.
Was bedeutet der Konnex zur Landwirtschaft?
«Wir wissen sehr wenig zu den Ursachen männlicher Unfruchtbarkeit», sagt Biologin Rahban und warnt auch vor einer Überinterpretation ihrer Regionen-Studie. So hätten sie zum Beispiel keine Schadstoffe in den Clustern vor Ort oder im Blut der Probanden gemessen.
Wie der Zusammenhang mit der Landwirtschaft zu erklären ist, bleibt offen, sagt Rahban. Die Studie basiert auf Daten von rund 3000 Männern, einer eher kleinen Testgruppe. Um die Cluster und den möglichen Zusammenhang mit landwirtschaftlich genutzten Flächen zu bestätigen, brauche es dringend weitere Forschungsgelder.
Der Schweizer Bauernverband will die Ergebnisse nicht bewerten: «Wir können die Studienergebnisse nicht beurteilen, da uns dafür die Expertise fehlt.»
Man unterstütze aber weitere Forschung, angesichts der vielen möglichen Einflussfaktoren und rund zehntausenden Chemikalien, mit denen Menschen täglich in Kontakt kämen.
«Da macht eine Ursachenforschung Sinn, um am richtigen Ort anzusetzen», schreibt der Bauernverband auf Anfrage von SRF Investigativ.
Die Forschungslücke
Dies fordert auch Toxikologin Ellen Fritsche. Sie ist Direktorin am Zentrum für angewandte Humantoxikologie SCAHT in Basel, das Rahbans Forschung mitfinanziert hat. Die neue Studie sei wertvoll, so Fritsche, aber es bräuchte nun grössere und präzisere Untersuchungen.
Notwendig seien etwa ein Humanbiomonitoring, bei dem Chemikalienbelastungen im Körper gemessen werden. Oder eine Untersuchung des Kinderwunschs in den Clustern, um zu ergründen, ob sich die unterschiedliche Samenqualität auch tatsächlich in der Fruchtbarkeit niedergeschlagen hat.
Die neue Regionen-Studie zu SpermienqualitätExterner Link deckt damit auch ein Dilemma auf: Unbestritten ist, wie wichtig es wäre, der Spermakrise auf den Grund zu gehen. Doch mangelt es an Forschungsgeldern dazu.
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