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Die Welt steht Kopf

Siedelte 1958 von Ostdeutschland in den Westen: Georg Baselitz.

Der 69-jährige Georg Baselitz gehört zu den bekanntesten deutschen Malern der Gegenwart. Das Kunstmuseum Lugano widmet ihm nun eine umfangreiche Retrospektive.

Die 150 Werke sind nicht streng chronologisch geordnet, sie berücksichtigen auch thematische Komponenten.

Längst vorbei sind die Zeiten, als Baselitz als Provokateur empfunden wurde. Noch in den 1960er-Jahren hatte man Gemälde von ihm wie “Grosse Nacht im Eimer” oder der “Nackte Mann” beschlagnahmt, weil sie als obszön galten. Er hatte einen onanierenden Jungen dargestellt.

Inzwischen ist Provozieren schwierig geworden und Baselitz ein Klassiker der zeitgenössischen Kunst. Seine Werke sind auf dem Kunstmarkt für teures Geld gefragt. In Lugano breiten sie sich auf drei Stockwerken aus. “Es ist eine Art visuelles Tagebuch”, hiess es anlässlich der Ausstellungseröffnung.

Die Bilderwelt des Georg Baselitz kämpft gegen festgelegte Kategorien und Regelmässigkeiten. Seine grobe Malerei richtet sich gegen das Ideal und wird somit zum Widerstand gegen Übergriffe des Systems.

Besonders deutlich zeigt sich dies in den Heldenbildern der 1960er Jahre, wo seine “neuen Typen”, wie er sie nannte, als Arbeiter, Hirten oder Rebellen in heroischem Kampf mit ihren wuchtigen Körpern die Bildformate füllen.

Motivumkehr als Prinzip

Das malerische Auflösen der Form führt schliesslich ab 1966 zu den Frakturbildern, wo Bildmotive in Streifen zergliedert und gegeneinander gesetzt werden, um den Bildraum ausser Kraft zu setzen. “Zwei geteilte Kühe I” kann unter anderen in Lugano bestaunt werden.

Durch Aufreissen und Zerschneiden verlieren Motive immer mehr an Bedeutung, was schliesslich zur Technik der Motivumkehr führt, die Baselitz international bekannt werden liess. 1970 findet in Köln die erste Ausstellung statt, deren Bilder alle auf dem Kopf stehen.

In Lugano sind unter anderen “Elke 1” (1975), “Schlafzimmer” (1975) oder der “Blaue Adler” (1974) zu sehen. Entgegen einer nahe liegenden Annahme hat Baselitz die Bilder nicht “normal” gemalt und dann auf den Kopf gestellt. Er hat die Bildkompositionen von Beginn an in ihrer Umkehrung konzipiert.

Besonders intensiv setzt sich Baselitz seit 1996 mit seiner persönlichen Vergangenheit auseinander, wobei Familienbilder und Porträts entstehen. Zudem spielen Themen wie Heimat, seine Kindheit und Volkskunst eine Rolle.

Einst und heute: Remix

Diese Auseinandersetzung findet auch mit seinem eigenen Werk statt. So nimmt Baselitz in der Serie “Remix” Motive von Bildern auf, die er früher gemalt hat. Ihnen wird eine neue Interpretation des gleichen Sujets gegenübergestellt.

So gibt es etwa zwei Versionen von “Die Hand. Das brennende Haus”, in welcher eine Hand ein brennendes Haus hält. Die erste stammt aus den Jahren 1964/65 und ist mit Ölfarben gemalt, die zweite Version stammt aus dem Jahre 2006. Sie ist nur halb so gross, eine Tuschzeichnung auf Aquarell-Farben und hat den düsteren Charakter der 60er-Jahre vollkommen verloren.

Der Künstler sieht in dieser Technik eine Möglichkeit, seine alten Bilder, die ihm nicht mehr gehören, in gewisser Weise wieder auferstehen zu lassen. Rainer Michael Mason, der Kurator der Ausstellung, nennt es eine “Fähigkeit des Künstlers, ein bereits behandeltes Thema neu zu formulieren und vom Abfall der Zeit zu befreien”.

swissinfo, Gerhard Lob, Lugano

Georg Baselitz wurde 1938 als Hans-Georg Kern in Deutschbaselitz in Sachsen geboren. Seine Kindheit und Jugend erlebte er in der ehemaligen DDR, was seinen künftigen Lebensweg entscheidend prägte.

Mit dem sozialistischen System in seiner Heimat kam Baselitz nicht zurecht. 1956 wurde er wegen “gesellschaftspolitischer Unreife” von der Hochschule in Ostberlin verwiesen.

Ab 1957 setzte er sein Studium an der Hochschule für Bildende Künste in West-Berlin fort und übersiedelte ein Jahr später für immer in den Westen. Im Jahr 1961 nimmt er in Anlehnung an seinen Geburtsort den Künstlernamen Georg Baselitz an.

Baselitz prägte mit seinen Werken die moderne Malerei ab den 1960er-Jahren. Manche Bilder und Ausstellungen endeten im Eklat, bevor er zu einer Grösse der etablierten Kunstszene wurde.

1975 zog er ins Schloss Derneburg bei Hildesheim und 2006 an den Ammersee in Oberbayern. Er arbeitet teilweise auch im italienischen Imperia.

Das Museum für moderne Kunst in Lugano hat mit vielen Ausstellungen internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Retrospektiven zu Bacon (1993), Munch (1998) oder Chagall (2001) gehörten zu den Publikumsmagneten.

In jüngster Zeit widmet sich das Museum vermehrt zeitgenössischen Künstlern, etwa dem jung verstorbenen US-Pop-Art-Künstler Jean-Michel Basquiat (2005), den “Verhüllungskünstlern” Christo und Jean-Claude (2006) oder dem spanischen Maler Miquel Barceló (2007).

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