Eine US-Journalistin 1931 in Berlin und der Rechtspopulismus heute
"Das Ende der Demokratie" - unter diesem Titel gibt der Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich elf Reportage-Essays von Dorothy Thompson heraus. Die US-amerikanische Journalistin hat sie in Berlin 1931 und 1932 geschrieben. Sie sind verstörend aktuell.
(Keystone-SDA) Als erste Frau war Dorothy Thompson (1893-1961) in den 1920er-Jahren verantwortliche Korrespondentin für reichweitenstarke US-amerikanische Medien, erst in Wien und dann in Berlin. Von 1931 bis 1934 schrieb sie als Reporterin für die «Saturday Evening Post» in Philadelphia vom Untergang der Weimarer Republik.
Zum Beispiel im Mai 1931: Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast, demselben Ort, an dem er zwölf Jahre später seine berüchtigte Rede zum Totalen Krieg halten sollte. 1931 hetzte Goebbels gegen den Vertrag von Versailles. Thompson beobachtet das Publikum, «einfach aussehende Männer und Frauen», 90 Prozent aus der unteren Mittelschicht. Deren Partei, die NSDAP, sei eine Partei des Kleinbürgertums gewesen, folgert die Journalistin. «Diese soziale Gruppe radikalisierte sich aus Angst vor dem sozialen Abstieg», sagt Oliver Lubrich im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Unter dem Titel «Das Ende der Demokratie» gibt er die Reportage-Essays von Thompson heraus. Das Buch gibt es ab dem (heutigen) Donnerstag im Handel.
«Im Prinzip der Trump-Effekt»
Ihr fällt auf, wie geschickt die NSDAP den Auftritt von Goebbels inszeniert: Lichteffekte, moderne Tontechnik, Fahnen, Uniformen. «Wie bei einer Filmproduktion», kommentiert Lubrich. «Die Nazis haben sich der neuesten Medien bedient und so die Affekte angesprochen.»
Goebbels selbst fand Thompson wenig beeindruckend. Sie beschreibt ihn als «kleinen Mann» in doppeltem Sinn. «Das erinnert daran, wie sie 1932 in ihrem Buch ‚Ich traf Hitler!‘ ihre Begegnung mit dem späteren Diktator geschildert hat», so Lubrich. Thompson habe Hitler zunächst unterschätzt, dann aber verstanden, dass sich in seiner «aufgeblasenen Mittelmässigkeit» viele Menschen wiedererkannten. «Das ist im Prinzip der Trump-Effekt. Vor allem Akademikerinnen und Akademiker konnten sich nicht vorstellen, dass eine solche Person jemals Präsident der USA werden würde.»
Thompson schaut auf die deutsche Jugend, die enttäuscht von der Demokratie, dem Kapitalismus und dem Westen, einen grundlegenden Umbruch der Verhältnisse will. Sie interviewt Reichskanzler Heinrich Brüning, der zwischen zyklischen und katastrophalen Krisen unterscheidet. Katastrophal werden Krisen demnach, wenn ökonomische und psychologische Faktoren zusammenfallen. An ihnen könne, wie Thompson beobachtet, eine Demokratie zugrunde gehen.
Verschwörungsideologie und Hysterie
«Eine Krise kann fatal werden, wenn Verschwörungsideologien eine allgemeine Hysterie befeuern», sagt Lubrich. Er ist Professor für Neue deutsche Literatur an der Universität Bern. Auf die heute fast vergessene Thompson und ihre Artikel ist er im Rahmen eines Forschungsprojekts über Reisen in die Diktatur gestossen. Und der psychologische Aspekt von Krisen, der Thompson interessiert, ist auch ein Grund, warum ihn ihre Texte faszinieren.
Damals haben sich die Deutschen gedemütigt gefühlt durch den Versailler Vertrag und die Reparationen, die ihnen die Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg auferlegt hatten. Lubrich verweist darauf, dass eine Emotionalisierung andauern könne, auch wenn ihr Auslöser verschwunden sei, wie dies 1932 mit den Reparationen der Fall war. «Auf heute übertragen, bedeutet dies beispielsweise für die Migrationsfrage, dass die Zahlen zurückgehen, aber die Erregung bleibt. Ist eine Polarisierung einmal erzeugt, entsteht eine Eigendynamik, die sich verselbstständigt.»
Dabei redet Thompson die ökonomische Krise der Weimarer Republik keineswegs klein. «Scharfsichtig» habe sie erkannt, so Lubrich, dass eine Wirtschaftspolitik, die Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert, Abstiegsängste in der Mittelschicht auslöse.
Die Droge Rechtspopulismus
Für eine weitere «spektakuläre Einsicht» hält Lubrich Thompsons Erkenntnis, dass Menschen gegen ihre eigenen Interessen handeln. «Rechtspopulismus funktioniert wie eine Droge. Sie bietet einem Gefühle, und dafür nimmt man die Folgen in Kauf.» Diese Einsicht helfe auch heute, vieles zu verstehen: «Dass beispielsweise ökonomisch Benachteiligte einen Multimillionär wählen, der sich persönlich bereichert, weil sein Angebot, Ressentiments gegen Fremde und Gebildete auszuleben, so viel Befriedigung verschafft.»
Bemerkenswert findet Lubrich zudem, wie Thompson einen «länderübergreifenden politischen Klimawandel» feststellt: einen international zunehmenden Nationalismus, wachsende Fremdenfeindlichkeit und eine allgemeine Tendenz zur Abschottung, die sie sprachlich brillant als «Grauhörnchenkomplex» verspottet. Das einheimische Eichhörnchen schien bedroht durch das fremde Grauhörnchen. «Solche Verschwörungserzählungen vom ‚Grossen Austausch‘ und von ‚Überfremdung‘ erleben wir heute auch», so Lubrich. Thompson beschreibt Anfang der dreissiger Jahre, dass man alles Fremde draussen halten will und deshalb die Zölle erhöht – «und dieselben Menschen, die wütend auf alles Fremde waren, werden dann wütend, weil diese Zollpolitik verheerende Folgen hat», sagt Lubrich. So entstehe ein Teufelskreis.
Landbevölkerung gegen die Städter
Hinzu komme, dass Thompson die rechtspopulistische Bewegung 1931 und 1932 «als eine Revolte der Landbevölkerung gegen die Städter» beschreibe. «Grosse Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Stadt und Land können wir heute in Deutschland und den USA und auch in der Schweiz beobachten», so Lubrich.
In seinem Nachwort im Buch «Das Ende der Demokratie» stellt der Literaturprofessor, anders als im Gespräch, keinen Bezug zur Gegenwart her. Neben den Parallelen seien auch Unterschiede festzustellen. «Das Deutschland von heute ist nicht das Deutschland von 1931 oder 1932. Es ist kein Präsidialsystem, in dem mit Dekreten regiert werden kann.» Das sei heute in den USA zu beobachten. «Zudem ist die Linke in Deutschland nicht verfassungsfeindlich und die Konservativen machen nicht gemeinsame Sache mit den Rechtsradikalen, wie in der Weimarer Republik», sagt Lubrich.
Aber die Parallelen sind augenfällig. Das macht die Lektüre verstörend. Genauso, wie Thompson damals ihrem amerikanischen Publikum die sterbende Republik und eine Gesellschaft am Abgrund vermittelte, so vermittelt sie als Zeitzeugin heutigen Leserinnen und Lesern eine Zeit in Deutschland, die nur auf den ersten Blick vergangen scheint. Das macht ihre Reportage-Essays brisant.