
Die Schweiz erwägt die Rückkehr zur Kernenergie – deren Risiken bleiben

Die Schweizer Regierung ist dem Beispiel vieler anderer Länder gefolgt und hat ihr jahrzehntealtes Verbot der Kernkraft im Namen sauberer Energielösungen aufgehoben. Forscher:innen weisen darauf hin, dass die umstrittene Energiequelle eine Reihe spezifischer, oft übersehener Gefahren mit sich bringt.
Die Debatte um die Zukunft der Kernenergie ist in die Schweiz zurückgekehrt. Als Reaktion auf die Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)»Externer Link beschloss der Bundesrat Ende vergangenen Jahres eine Änderung des KernenergiegesetzesExterner Link mit dem Ziel, das bestehende Verbot des Baus neuer Kernkraftwerke aufzuheben.
Das Verbot war als Folge der AKW-Katastrophe im japanischen Fukushima 2011 in Kraft getreten und hatte die Kernenergie aus der Schweizer Energiestrategie gestrichen.
Nun hat die Regierung eine Kehrtwende vollzogen und die Kernenergie zum notwendigen Bestandteil einer ausgewogenen Stromversorgung erklärtExterner Link.
Damit soll die Energiesicherheit bei steigender Nachfrage gewährleistet sein und es der Schweiz zugleich ermöglicht werden, ihre Klimaziele zu erreichen.
Nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA)Externer Link erlebt die Kernenergie weltweit ein Comeback. Mehr als 40 Länder verfolgen konkrete Pläne zum Ausbau der Atomkraft und wollen die weltweite Kernkraftkapazität bis 2050 verdreifachen – auch um die Emissionsziele zu erreichen.
Die IEA schreibt: «Die Kernenergie ist eine führende Quelle sauberer und sicherer Stromerzeugung – nach der Wasserkraft die zweitwichtigste emissionsarme Energiequelle.»
Geringe Emissionen, aber alles andere als sauber
Betrachte man nur die Kohlendioxidemissionen, so sei die Kernenergie sicherlich weniger umweltschädlich als Strom aus Kohle oder Erdgas, sagt Doug Brugge, Biologe und Professor für Public Health an der Universität von Connecticut.
«Aber Atomkraft als saubere Energiequelle zu bezeichnen, ist schlichtweg falsch», betont er. Gemeinsam mit dem Ingenieur Aaron Datesman veröffentlichte Brugge vor Kurzem das Buch «Dirty Secrets of Nuclear Power in an Era of Climate Change»Externer Link (Schmutzige Geheimnisse der Kernenergie im Zeitalter des Klimawandels). Die Autoren wollen die wichtigsten Risiken der Kernenergie auf sachliche, objektive und verständliche Weise darstellen.
Auch wenn Brugge sich in seiner Forschung hauptsächlich mit den gesundheitlichen Auswirkungen der Luftverschmutzung beschäftigt, interessiert er sich seit über drei Jahrzehnten für die gesundheitlichen Folgen des Uranabbaus – der wichtigsten Energiequelle für die Atomkraft.
Seine Motivation ist persönlicher Natur: Brugge wuchs in einem Indianerreservat der Navajo im Südwesten der USA auf, wo von den 1940er- bis in die 1980er-Jahre Uran abgebaut wurde. Viele Minenarbeiter starben später an Lungenkrebs oder Lungenfibrose, und niemand war über die Gefahren der Strahlenbelastung aufgeklärt worden.
Bis heute liegt ein Grossteil des radioaktiven Materials, das beim Abbau an die Oberfläche gelangte, frei und verseucht Land und Wasser. Der Urananreicherungsprozess sei für die Arbeiter nach wie vor schmutzig und gefährlich und verseuche Böden und Gewässer in den Bergbauregionen mit Radioaktivität, sagt Brugge.
«Aber nur wenige sprechen darüber, weil das Problem vor allem arme, oft indigene Gemeinschaften in abgelegenen Gebieten betrifft. Es ist ein schmutziges Problem der Arbeiterklasse. Wer Atomkraft als sauber bezeichnet, ignoriert diesen Teil der Geschichte.»

Strahlenbelastung entlang der nuklearen Kette
Auch der französische Nuklearingenieur Bruno Chareyron kritisiert das Etikett «sauber» für die Atomkraft. Seit 1993 arbeitet er für CRIIRAD, eine unabhängige Strahlenschutzorganisation, die nach der Katastrophe von Tschernobyl gegründet wurde.
Im Lauf der Jahrzehnte hat Chareyron unzählige unabhängige Strahlungsmessungen in Uranabbaugebieten durchgeführt, in Zügen und Lastwagen, die radioaktives Material zu und von Kernkraftwerken transportieren, sowie in Flüssen, die zur Kühlung von Reaktoren genutzt werden.
Die Gruppe hat die Strahlenbelastung auch auf Parkplätzen, öffentlichen Strassen, Wanderwegen und Schulspielplätzen in Frankreich gemessen, wo radioaktive Rückstände aus dem Uranabbau als Baumaterial verwendet wurden.
Dabei wurden wiederholt erhebliche Strahlungswerte festgestellt, die manches Mal die gesetzlichen Grenzwerte überschritten und nicht öffentlich bekanntgegeben wurden.
In seinem neuen Buch «Le nucléaire : une énergie vraiment sans danger ?»Externer Link skizziert er die Risiken und warnt vor Illusionen über den technologischen Fortschritt im Zusammenhang mit der Kernkraft.
«Zwischen dem offiziellen Narrativ und der Realität liegen oft Welten», sagt Chareyron. Während seines Studiums der Nuklear- und Energietechnik wurde ihm eine äusserst positive Sicht auf die Technologie vermittelt. Doch seine Feldforschung mit CRIIRAD ergab ein anderes Bild.
Die gesamte nukleare Kette – vom Abbau über die Anreicherung bis zum Reaktorbetrieb – setzt Arbeiter und die lokale Bevölkerung langfristigen radioaktiven Risiken aus. Die Frage der sicheren Lagerung hochradioaktiver Abfälle über Jahrtausende sei noch ungeklärt, und die Menschen unterschätzten das Risiko eines schweren Reaktorunfalls, sagt er.
Planung für den Klimawandel
Chareyron sieht die Klimakrise als Argument gegen die Kernenergie, nicht dafür: «Die heutigen Kernkraftwerke sind nicht dafür ausgelegt, den extremen Wetterereignissen standzuhalten, die der Klimawandel mit sich bringen wird», warnt er.
Um Kernschmelzen wie in Fukushima zu vermeiden, benötigen die Reaktoren eine konstante Versorgung mit Strom und Kühlwasser, und abgebrannte Brennelemente müssen jahrelang gekühlt werden.
Steigende Wassertemperaturen, sinkende Flusspegel, Überschwemmungen, Waldbrände und Stürme könnten die Reaktorsicherheit in Zukunft gefährden. «Das Risiko von Reaktorunfällen wird mit dem Klimawandel zunehmen», folgert Chareyron.
Andrea Rezzonico, Sicherheitsexpertin beim US-amerikanischen Council on Strategic Risks, untersucht seit sieben Jahren die Zusammenhänge zwischen Klimawandel, nuklearer Entwicklung und globaler Sicherheit.
«Schon damals sahen viele Staaten in der Atomkraft eine Möglichkeit, die Klimaziele des Pariser Abkommens zu erreichen. Wir wollten verstehen, wie sich der Klimawandel auf die nukleare Infrastruktur auswirken könnte», sagt sie.
Rezzonico glaubt, dass die Kernenergie langfristig zum Klimaschutz beitragen kann, dass aber kurzfristig schnellere Lösungen erforderlich sind. Sie drängt auch darauf, dass sowohl bestehende als auch neue Reaktoren Klimaszenarien und Extremereignisse berücksichtigen müssen, um nukleare Unfälle zu vermeiden.
«Viele Reaktoren wurden zu einer Zeit gebaut, als die heutigen Klimaprognosen noch keine Rolle spielten», sagt sie. Ihre Analysen zeigen, dass Reaktoren in Küstennähe durch den steigenden Meeresspiegel und Sturmfluten gefährdet sein könnten.
In der Schweiz und in Europa stellten Dürreperioden, sinkende Flusspegel und höhere Wassertemperaturen die grössten Herausforderungen dar, sagt Rezzonico.
«Die Verfügbarkeit von Kühlwasser wird zu einem kritischen Faktor. In Zukunft werden wir vor der Frage stehen: Nutzen wir das Wasser zur Kühlung von Reaktoren – oder für die Landwirtschaft? Gleichzeitig wird das Wasser viel wärmer sein, was sowohl für den anfänglichen Kühlbedarf als auch für die Rückführung in das Ökosystem ein Problem darstellt.»
Der Faktor Mensch ist entscheidend – auch beim Ausstieg
In der Debatte um die Zukunft der Kernenergie in der Schweiz sollte der Fokus nicht nur auf den CO2-Emissionen und der Technologie liegen, sagt Rhona Flin. «Der Faktor Mensch ist entscheidend für den sicheren Betrieb eines Kernkraftwerks.»
Flin ist emeritierte Professorin für angewandte Psychologie an der Universität von Aberdeen in Schottland und hat über Jahrzehnte das Zusammenspiel von Sicherheitskultur, Führung und menschlichem Verhalten in Hochrisikobranchen wie der Kernenergie, der Luftfahrt und der Ölindustrie erforscht.
Sie wirkte zudem an der Entwicklung eines EU-Schulungsprogramms zur nuklearen Sicherheitskultur für Führungskräfte und Aufsichtsbehörden mit.
Die Professorin ist der Ansicht, dass selbst in Ländern, die aus der Kernenergie aussteigen, die Frage des Fachpersonals nicht vernachlässigt werden darf. Der sichere Betrieb bestehender Reaktoren, ihr Rückbau und die Entsorgung radioaktiver Abfälle werden noch jahrzehntelang hochqualifizierte Fachkräfte erfordern.
Neue Technologien wie künstliche Intelligenz oder Robotik böten sowohl neue Chancen als auch Risiken. «Wir müssen noch lernen, wie Menschen und Maschinen effektiv zusammenarbeiten können – und was passiert, wenn Maschinen versagen.»
Entscheidend seien nicht nur technisches Fachwissen, sondern auch so genannte nichttechnische Fähigkeiten wie Kommunikation, Teamarbeit und Entscheidfindung in Krisensituationen sowie eine Arbeitskultur, in der Angestellte sich trauen, offen über mögliche Risiken zu sprechen.
«Die Mitarbeitenden müssen sich wohl fühlen, über Probleme und Sorgen zu sprechen, auch gegenüber ihren Vorgesetzten. Und leitende Manager müssen bereit sein, zuzuhören und entsprechend zu handeln.»
Eine solche Sicherheitskultur sei für den sicheren Betrieb von Kernkraftwerken von entscheidender Bedeutung, sagt Flin –unabhängig davon, ob die Schweiz neue Reaktoren baut oder am Atomausstieg festhält.
Übertragung aus dem Englischen mit der Hilfe von Deepl: Petra Krimphove/raf
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