G20-Gipfel, Pittsburgh: eine relative Wohlstandsinsel
US-Präsident Barack Obama empfängt am Donnerstag und Freitag die Staatschefs der G20-Länder in Pittsburgh - eine Stadt voller Vitalität, trotz der schweren Rezession in den USA. Die dort lebenden Schweizer fühlen sich von der Krise verschont.
«Die Hölle unter freiem Himmel.» So beschrieb Charles Dickens Pittsburgh Mitte 19. Jahrhundert.
US-Präsident Barack Obama dagegen sieht heute den Ort nicht gerade als Paradies auf Erden, aber immerhin als «wundervolle Stadt».
Was ist zwischen der Zeit von Dickens und Obama geschehen? Der Niedergang der Eisen- und Stahlindustrie, die Entwicklung in Richtung umweltfreundlichere Industrieen, die Schaffung von grünen Räumen sowie die Aufwertung des grossartigen Naturparks bei der Mündung der zwei Flüsse, die den Staat Ohio bilden.
«Pittsburgh ist ein wagemutiges Beispiel, das zeigt, wie neue Arbeitsplätze und neue Industrien geschaffen werden und gleichzeitig der Übergang zur Wirtschaft des 21. Jahrhunderts vollzogen werden kann», sagt Barack Obama.
Wohlstandsinsel…mit einigen Flecken
In der Tat gilt Pittsburgh als äusserst trendige Wohlstandsinsel. Pittsburgh gehört zu den zehn saubersten Städten der Welt, auf der gleichen Stufe wie Genf.
Die Arbeitslosigkeit in der US-Stadt liegt 2% tiefer als der amerikanische Durchschnitt. Laut dem britischen Wirtschaftsmagazin The Economist liegt Pittsburgh in Sachen Lebensqualität in den USA auf Platz 1, weltweit auf Rang 29.
«Pittsburgh ist weniger industriell und mehr intellektuell», sagt Conrad Austertag gegenüber swissinfo.ch. Er ist der Sohn eines Basler Einwanderers und ehemaliger Mitarbeiter einer Stahlfabrik.
Die Umwelt sei «weniger verschmutzt», betont Austertag. «In den 50er-Jahren war die Luft derart verschmutzt, dass ich ein Ersatzhemd zur Arbeit mitnehmen musste, das ich für die zweite Hälfte des Tages anzog, erzählt der Amerika-Schweizer, der 2008 in Pension gehen musste, weil eine grössere Gruppe seinen Betrieb aufkaufte.
«Die Restrukturierung der Stadt ist total», erklärt Ed Graf, Hotelbesitzer und Sohn eines Einwanderers aus Winterthur.
«Mit der Schliessung der Stahlwerke verkleinerte sich die Bevölkerungszahl von Pittsburgh in 50 Jahren um die Hälfte. Und die erheblichen Schutzmassnahmen, welche die Gewerkschaften für die Arbeiter in der Stahlindustrie erkämpft hatten, verschwanden zusammen mit den Fabriken», so Graf.
Die Veränderung kennt nicht nur Gewinner. «Viele Arbeitsplätze wurden in den Bereichen Dienstleistung und Gesundheit geschaffen, aber die Löhne sind niedriger, als sie in der Stahlindustrie waren. Und zudem bot die Stahlindustrie auch Arbeitsplätze für Unqualifizierte an. Diese Leute haben jetzt grosse Mühe, Arbeit zu finden», sagt Graf.
Krise – welche Krise?
Das Hotel Le Priory von Ed Graf kennt indessen keine Krise. «Es geht uns noch besser als letztes Jahr, und wir beabsichtigen, grösser zu werden», sagt der Hotelier.
Auch bei Acutronic, Filiale eines Unternehmens in Bubikon, Kanton Zürich, spezialisiert auf die Herstellung von Simulatoren, ist Krise ein Fremdwort.
«Wir haben das Glück, dass wir in einer Marktlücke des Verteidigungsbereiches arbeiten, dessen Bedingungen durch die geopolitische Situation geregelt sind», sagt die schweizerisch-amerikanische Doppelbürgerin Dominique Schinabeck, die Acutronic-USA leitet.
Trotz Rezession sind die USA militärisch weiterhin in Irak und Afghanistan engagiert. Diese zwei Kriegsregionen führen dazu, dass Acutronic viele Aufträge vom Pentagon erhält. «Im vergangenen Jahr hat sich unser Umsatz um mehr als 30% erhöht», betont Schinabeck.
Das Unglück der einen ist manchmal das Glück der anderen: Acutronic profitiert von der Krise bei anderen Unternehmen und auf dem Arbeitsmarkt.
«Wir haben Angebote von mehr Zulieferbetrieben, und diese sind viel eher bereit, ihre Preise zu senken. Und wir erhalten heute mehr Bewerbungen von Ingenieuren. Früher dauerte es lange, um jemanden für einen solchen Job zu finden», sagt die Acutronic-Chefin.
Willkommen zum G20-Gipfel
Dominique Schinabeck begrüsst den G20-Gipfel in Pittsburgh enthusiastisch, wie viele andere Bewohner der Stadt.
«Der G20-Gipfel bringt Pittsburgh einen Schritt weiter, mehr ins Rampenlicht, das ist gut so, denn die Stadt wurde schon seit langem nicht als ein wichtiger Ort betrachtet», freut sich Ed Graf.
«Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee der G20 ist, die Banken daran zu hindern, zu gross zu werden», warnt der Hotelier.
«Und was den wirtschaftlichen Wiederaufschwungplan Obamas betrifft, wäre mir lieber gewesen, wenn darin mehr Massnahmen zugunsten von Kleinunternehmen enthalten wären. Denn für ein Unternehmen wie das unsere, das sich vergrössern möchte, sieht der Plan keine Steuererleichterungen vor.»
Kontrolle der Banken
In den Augen von Dominique Schinabeck könnte Obamas Wiederaufschwungplan dem Verteidigungssektor schaden, zusammen mit jenem der Gesundheit und dem öffentlichen Dienst einer der raren Bereiche, denen es trotz Rezession gut geht.
«Wegen des Plans wurden zahlreiche Sparschnitte im Verteidigungsbudget gemacht. Wenn das nächste Budget noch weitere Beschränkungen erleiden sollte, könnten wir die Folgen drastisch spüren», befürchtet die Acutronic-Chefin.
Zum G20-Gipfel erhofft sich Schinabeck , «dass die zahlreichen guten Ideen umgesetzt werden». Dabei erwähnt sie «die Kontrolle des Bankenkapitals».
Die Risiken der Banken müssten limitiert werden, obwohl sie generell nicht für diese Art von Kontrolle sei. «Wären die Banken aber vor der Krise besser reglementiert gewesen, hätten wir das Chaos nicht, in dem wir jetzt stecken.»
Marie-Christine Bonzom, Washington, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)
Die Traktanden des Gipfeltreffens vom 24. Und 25. September in Pittsburgh sind die Fortsetzung des Gipfels vom April dieses Jahres in London. Die Teilnehmerländer streben eine umfassende Reform der Finanzmärkte an.
Darunter unter anderem eine Verstärkung von Transparenz und Mitverantwortung; strengere Regeln und Vorschriften; mehr Integrität bei den Finanzmärkten; Verstärkung der internationalen Finanzaufsicht.
Pittsburgh hat 316’000 Einwohner, zweimal weniger als 1950, dem demografischen Höhepunkt der Stadt.
Pittsburgh ist die ehemalige Hauptstadt der amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie. Heute ist die Wirtschaft diversifiziert: Dienstleistungen, Robotertechnik, Bio- und Umwelt-Technologie, Bildung, Forschung und Tourismus.
Die Arbeitslosenquote beträgt 7,7%, 2% weniger als die Landesdurchschnittsquote.
Gemäss der Wochenzeitung The Economist ist Pittsburgh in Sachen Lebensqualität die Nummer 1 in den USA. Laut dem Wirtschaftsmagazin Forbes gehört Pittsburgh zu den zehn saubersten Städten der Welt, auf derselben Stufe wie Genf.
Name: Der Name Pittsburgh stamme vom Schweizer Henri Bouquet, der 1758 Offizier in der britischen Armee war.
Schweizer: Pittsburgh ist die zweitgrösste Stadt in Pennsylvania, einem jener fünf US-Bundesstaaten mit dem grössten Anteil von Einwohnern mit Schweizer Wurzeln.
Vereine: In Pittsburgh gibt es mehrere schweizerisch-amerikanische Vereine. Einer davon wurde schon 1874 gegründet.
American Foootball: Ben Roethlisberger, Star der Steelers, US-Football-Meister, hat Schweizer Wurzeln.
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