Sterbehilfe soll in der Schweiz zum Schulstoff werden, fordert das Jugendparlament
Während die Sterbehilfe boomt, drückt sich die Schweiz vor wichtigen Fragen. So sieht es das Jugendparlament. Es fordert Suizidaufklärung in Schulen.
Heute beenden in der Schweiz viermal so viele Menschen über 85 ihr Leben durch Suizid wie vor 25 Jahren. Grund dafür ist die legale Sterbehilfe. Schon 2035, so sagen Fachleute voraus, wird jeder 20. Todesfall in der Schweiz ein assistierter Suizid sein.
Für die Teilnehmenden der Jugendsession (Kasten) in Bern ist klar: Angesichts dieser Entwicklung darf die Politik nicht länger zuwarten.
Konkret verabschiedete das Jugendparlament die Forderung nach einer Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne. Der Vorschlag: Die Sterbehilfe soll in Workshops oder Themenwochen in der Schule behandelt werden.
Kontrovers diskutiert wurde dabei ein Detail. So soll die Kampagne nicht nur über die rechtlichen Grundlagen und die emotionalen Auswirkungen informieren, sondern auch ethische Fragen aufgreifen.
Einige Junge fürchteten, dass den Schülerinnen und Schülern damit ein Wertekonzept übergestülpt werden könnte.
Ein Antrag, den ethischen Teil zu streichen, scheiterte deutlich. Mit 138 zu 12 Stimmen schickte die Jugendsession ihre Forderung ans nationale Parlament.
Die Angst vor dem Werther-Effekt
Die Frage, ob das Thema für Jugendliche überhaupt geeignet ist, fand nur am Rande Eingang in die Debatte. In der Forschung wird seit Langem diskutiert, ob Aufklärung über Suizid Selbsttötungen eher befördern oder verhindern kann – Stichwort Werther- respektive Papageno-Effekt.
Fachleute reagieren auf den Vorschlag des Jugendparlaments denn auch mit Zurückhaltung. So schreibt Anja Gysin-Maillart, Co-Präsidentin des Schweizerischen Dachverbands für Suizidprävention Ipsilon, ihr Verband rate von einer verbindlichen Thematisierung des assistierten Suizids im Unterricht ab.
Die Jugendsession 2025 zum Nachschauen. Der assistierte Suizid wird ab 5h 20m behandelt:
Suizidprävention im schulischen Kontext sei ein sensibles Themenfeld. «Da es in der Schweiz keine spezifische gesetzliche Grundlage für die Regulierung des assistierten Suizids im präventiven oder pädagogischen Kontext gibt, erachten wir es nicht als geeignetes Thema für den schulischen Unterricht», so Gysin-Maillart.
Aus Sicht des Verbandes liege die Priorität viel eher darin, ein Suizidpräventionsgesetz zu entwickeln, das auch Fragen des assistierten Suizids adressiere.
Lehrerverband formuliert klare Bedingungen
Auch der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) zeigt sich eher reserviert. Eine Behandlung im Unterricht setze klare Bedingungen voraus: altersgerechte Vermittlung, Fokus auf Prävention, klare Ansprechpartner für Jugendliche in Krisen, Sprachleitlinien, Elterninformation sowie den Einsatz speziell geschulter Lehrkräfte zusammen mit Fachpersonen.
Als frühestmögliche Stufe nennt der Verband die Sekundarstufe I, eine vertiefte Auseinandersetzung mit Sterbehilfe sei erst ab der Sekundarstufe II, also ab rund 15 Jahren angemessen.
Das Unbehagen in der Schweiz
Angesichts dieser Hürden ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es das Parlament bei einer wohlwollenden Kenntnisnahme belassen wird.
Doch die Forderung der Jugendsession bleibt Ausdruck eines breiteren Unbehagens. Die Diskussion über die Sterbehilfe wird in der Schweiz nur punktuell geführt, zuletzt im Kontext der Suizidkapsel Sarco. Diese zog zwar zwei Vorstösse im Parlament nach sichExterner Link – doch dieses sah erneut keinen Regulierungsbedarf. Es ist seit Jahren die Rückfallposition der Politik.
Die Jugendsession ist ein jährliches Treffen in der Schweiz, bei dem rund 200 politisch interessierte Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 21 ihre Anliegen direkt auf nationaler Ebene einbringen können.
Während mehrerer Tage diskutieren sie Themen und erarbeiten Forderungen, die sie als Jugendparlament in einer Sitzung im Nationalratssaal verabschieden – oder verwerfen. Die Forderungen übergeben sie im Sinne einer Petition dem Nationalratspräsidium.
Teil des offiziellen politischen Prozesses wird eine Forderung, wenn mindestens ein Parlamentsmitglied diese aufgreift und als Vorstoss in National- oder Ständerat einreicht.
Rechtlich ist Sterbehilfe in der Schweiz nur minimal eingeschränkt. Strafbar ist sie nur, wenn sie aus selbstsüchtigen Beweggründen erfolgt. Eine terminale Erkrankung ist rechtlich ebenso nicht nötig wie Volljährigkeit.
Einschränkungen in der Praxis machen die Sterbehilfeorganisationen sowie die Ärzteschaft. So hat die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) Richtlinien für den ärztlichen Umgang mit der Suizidhilfe verfasst.
Voraussetzung ist demnach, dass eine Person urteilsfähig und der Sterbewunsch selbstbestimmt ist. Zudem muss ein unerträgliches Leiden vorliegen und es müssen medizinische Alternativen geprüft worden sein.
Dass weitgehend private Institutionen über die Rahmenbedingungen der Sterbehilfe entscheiden, gilt als problematisch. Das konstatiert auch die Jugendsession in einem Begleitpapier, das weitere Probleme aufzählt.
Darunter die fortschreitende Normalisierung der Sterbehilfe, die einen subtilen Druck insbesondere auf pflegebedürftige Menschen ausübt.
Allein die Frage, wie ältere Menschen mit der Option des assistierten Suizids in Kontakt kommen, hat weitreichende ethische Implikationen, wie ein Teilnehmer des Jugendparlaments herausstrich.
Auf dem Weg zu einer Suizidkultur?
Negativbild dieser Bedenken ist das, was der frühere Zürcher Justizdirektor Markus Notter als «Suizidkultur» beschrieben hatExterner Link. Notter war mit seinem Versuch, die Sterbehilfe zu regulieren, Ende der 2000er-Jahre gescheitert.
Es war die Zeit, in der auch der Bundesrat zwei Gesetzesentwürfe zur Regelung der Sterbehilfe vorlegte, die aber beide scheiterten. Die Jugendsession hatte damals noch inhaltlich Position zur Sterbehilfe bezogen. Das hat sie diesmal unterlassen.
Die Jungen haben aber eine klare Botschaft gesendet: Die Schweiz sollte über die Suizidhilfe reden.
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