The Swiss voice in the world since 1935
Top Stories
Schweizer Demokratie
Newsletter
Top Stories
Schweiz verbunden

Jakarta: Eine sinkende Stadt im Überlebenskampf

Die Waladuna-Moschee von Muara Baru in Jakarta, Indonesien.
Die Waladuna-Moschee, die vom Damm aus zu sehen ist, der das Slum Muara Baru schützt, steht seit Anfang der 2000er-Jahre unter Wasser und ist zu einem Symbol für die Gefahren geworden, die Jakarta bedrohen. SWI swissinfo.ch / Dorian Burkhalter

Der steigende Meeresspiegel und das Absinken des Bodens bedrohen die Zukunft Jakartas. Angesichts dieser Herausforderungen ringen die Behörden um Lösungen. Eine Reportage aus Indonesien, wo über eine Verlegung der Hauptstadt diskutiert wird.

Dede, Chandra und ihre Tochter Saphira sitzen unter dem Vordach ihres bescheidenen Hauses und beobachten das Geschehen. Vor ihnen zieht sich eine Baustelle die ganze Strasse entlang. Mehrere Arbeiter sind damit beschäftigt, den unbefestigten Weg, der durch den Häuserblock im Stadtteil Muara Angke, einem Slum im Norden Jakartas, führt, um einen Meter anzuheben.

«Noch gestern stand das Wasser bis hierhin», sagt Dede und zeigt mit der Hand auf die Schwelle der Eingangstür. Im vergangenen Jahr hatte die Familie weniger Glück. Das Wasser drang in ihr Haus und das Nachbarhaus ein, in dem Saphiras Grossmutter lebt. «Ich musste in aller Eile weg. Ich habe all meine elektronischen Geräte verloren», klagt die alte Frau.

Dede, Saphira und Chandra vor ihrem Haus.
Dede, Chandra und ihre Tochter Saphira leben seit jeher in Muara Angke. SWI swissinfo.ch / Dorian Burkhalter

Die Häuser in diesem Viertel liegen nur etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt. Sie ragen kaum über den Meeresspiegel hinaus und sind regelmässig von den Gezeiten bedroht. Überschwemmungen sind für die Einheimischen zwar nichts Neues, doch sie sagen, dass sie inzwischen häufiger auftreten, nämlich mehrmals im Jahr.

Auch am Tag nach den letzten Überschwemmungen ist das Wasser noch nicht vollständig zurückgegangen. In einigen Gassen steht es weiterhin hoch, während andere mit vom Meer angeschwemmtem Müll übersät sind. In der heissen und feuchten Luft dieses späten Oktobervormittags liegt der Geruch von Abwasser. Es wimmelt von Mücken, die vom stehenden Wasser angezogen werden.

Eine doppelte Bedrohung

Für die Einwohner:innen von Muara Angke spitzt sich die Lage zu. Die indonesische Hauptstadt ist die am schnellsten sinkende Stadt der Welt, und nirgendwo zeigt sich dieses Phänomen deutlicher als im Norden.

Als Folge der Übernutzung der Grundwasserleiter sackt der Boden hier mancherorts um mehr als 20 Zentimeter ab. Hinzu kommen der steigende Meeresspiegel und immer heftigere Niederschläge als Folge der globalen Erwärmung. Die etwa 20’000 Menschen dieser Gemeinschaft, darunter viele Fischer:innen, die für ihr Einkommen auf den einfachen Zugang zur Bucht von Jakarta angewiesen sind, sind daher besonders bedroht.

Externer Inhalt

Dedes Familie begegnet dieser doppelten Bedrohung mit Resignation. An ein Leben anderswo denkt sie nicht. «Wegziehen? Wohin denn? Wir leben seit Jahrzehnten hier», entgegnet der Familienvater.

Ein paar hundert Meter weiter mündet die kleine Gasse in einen Fischereihafen. Am Kai sitzen vier Männer um einen Tisch. Die Stimmung ist ausgelassen. Die Fischer:innen teilen scharf gewürzte Muscheln, die sie am selben Morgen gesammelt haben, und trinken dazu dunkel gefärbten lokalen Alkohol. Sie unterhalten sich, lachen laut und singen abwechselnd auf einer kleinen Karaoke-Bühne.

Ringsherum stehen Pfahlhäuser, die rund zwei Meter über dem Boden thronen und so vor Überschwemmungen geschützt sind. Diese neuen Unterkünfte haben die Behörden im vergangenen Jahr bereitgestellt.

Abdusachman, ein 57-jähriger Fischer aus Indramayu, einer Küstenstadt östlich von Jakarta, sieht den Bau dieser Wohnungen positiv, auch wenn er, wie einige seiner Kolleg:innen, weiterhin auf seinem Boot schläft.

Kilometerlange Deiche gegen das Wasser

Angesichts des jährlich um zwei bis vier Zentimeter steigenden Meeresspiegels haben die Behörden Deiche errichtet, die sich über mehrere Kilometer erstrecken. Doch sie bieten nur einen unvollkommenen Schutz, da das Meerwasser weiterhin einsickert. Einige befürchten, dass die Mauern eines Tages nachgeben könnten.

Laut den Behörden müssen bis 2030 weitere Deiche mit einer Gesamtlänge von  28 Kilometern gebaut werden. Langfristig ist ein Projekt namens «Giant Sea Wall» geplant: ein mehrere Dutzend Kilometer langer Deich im Meer, der einen neuen Bezirk auf einer künstlichen Insel umschliesst.

«Die Situation der Fischer hier hat sich in letzter Zeit verbessert, aber das Überschwemmungsrisiko bleibt hoch», stellt Dwi Sawong fest und blickt auf die Wasserlachen vor den kleinen Häuschen in der Nähe des Hafens. Sawong ist Kampagnenverantwortlicher für Raumplanung und Infrastruktur bei WALHI, einer indonesischen Umweltorganisation. Er kennt Muara Angke gut und hat miterlebt, wie sich das Viertel im Laufe der Zeit verändert hat. «Die Menschen, die hier leben, werden in ein paar Jahren umziehen müssen», warnt er.

Rund zwei Millionen Menschen leben im Norden Jakartas, wo das Risiko wiederkehrender Überschwemmungen am höchsten ist. Dort befinden sich auch zahlreiche informelle Siedlungen. Die Umsiedlung der Menschen, die ausserhalb des offiziellen Systems auf Land leben, das ihnen nicht gehört, wird schwierig, selbst wenn entsprechende Projekte existieren. So wurden etwa bereits an mehreren Orten grosse Wohnheime errichtet.

Menschengemachte Probleme

Dwi Sawong begrüsst die Massnahmen gegen den steigenden Meeresspiegel, betont jedoch, dass «das Hauptproblem weiterhin die Bodensenkung» sei. Dies ist eine Herausforderung, der die Behörden nur schwer Herr werden können. Im Gegensatz zu Gezeiten und Regenfällen ist diese direkt auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen.

Um die Ursachen dieses Phänomens zu verstehen, muss man sich das Trinkwassernetz der Stadt ansehen, das an vielen Stellen nicht vorhanden ist.

In einem kleinen Café im Zentrum der Hauptstadt, unweit des Rathauses, wo imposante Regierungsgebäude und die gläsernen Türme internationaler Banken und Konzerne in den Himmel ragen, treffen wir Nirwono Joga. Er ist Städtebauexperte an der Universität Trisakti in Jakarta und Berater des Gouverneurs. Er erklärt: «Die meisten Haushalte sind nach wie vor von Grundwasser abhängig, das sie mit Pumpen fördern.»

Nirwono Spielt
Laut Nirwono Joga könnte Jakarta mit seinen 12 Millionen Einwohner:innen theoretisch ohne die Entnahme von Grundwasser auskommen. SWI swissinfo.ch / Dorian Burkhalter

Nach Angaben der Behörden versorgt das Trinkwassernetz heute 75% der Stadt. Der Experte präzisiert jedoch, dass «dies hauptsächlich die Industrie- und Gewerbegebiete im Zentrum von Jakarta betrifft».

Wegen der starken Grundwasserentnahme leeren sich die Grundwasserspeicher der sich rasant entwickelnden Metropolregion, während der Untergrund unter dem Gewicht der Hochhäuser nachgibt. Die Zubetonierung Jakartas, wo Grünflächen äusserst rar sind, verhindert zudem die Regeneration der Grundwasservorkommen.

Heute liegen rund 40% des Stadtgebiets – vor allem im Norden – unter dem Meeresspiegel. Fachleute schätzen, dass die gesamte Hauptstadt bis 2050 versinken könnte, wenn sich nichts ändert.

Ein Wassernetz im Aufbau

Dabei könnte die 12 Millionen Einwohner:innen zählende Stadt Jakarta – und die mehr als 30 Millionen Einwohner:innen zählende Metropolregion – theoretisch vollständig auf die Nutzung von Grundwasser verzichten, meint Nirwono Joga.

Der Ballungsraum verfügt über Meereszugang und wird von 13 heute stark verschmutzten Flüssen durchquert, die sich zwischen Strassen, Bahnlinien, Wohnhäusern und Hochhäusern hindurchschlängeln. Zudem ist die Stadt an zwei Staudämme angebunden: den Karian-Damm im Südwesten, der im vergangenen Jahr eingeweiht wurde, und den Jatiluhur-Damm im Südosten. Doch die notwendige Infrastruktur – Rohrleitungen, Kanalisation, Kläranlagen, Reservoirs – fehlt nach wie vor weitgehend.

Die Behörden hoffen, die gesamte Stadt noch vor Ende des Jahrzehnts an ein sauberes Trinkwassernetz anschliessen zu können. Ein ambitioniertes Ziel als Antwort auf die fortschreitende Bodensenkung.

«Unser Ziel ist es, bis 2029 eine Abdeckung von 100% zu erreichen», bestätigt Arief Nasrudin, Generaldirektor von PAM Jaya, dem öffentlichen Unternehmen, das für die Trinkwasserversorgung verantwortlich ist. «Rund eine Million Haushalte müssen noch angeschlossen werden.» Diese seien über die ganze Stadt verteilt, so Nasrudin, auch wenn sich die grösste Konzentration im Süden befinde, «wo die Qualität des Grundwassers noch sehr gut ist».

Baustellen sind unvermeidlich. Und in einer Stadt mit so hohem Verkehrsaufkommen wie Jakarta werden die Beeinträchtigungen erheblich sein. «Die grösste Herausforderung besteht darin, dass die Bevölkerung bereits angesiedelt ist, während die Infrastruktur noch nicht vorhanden ist. Wenn wir von 25% der Haushalte sprechen, die nicht angeschlossen sind, bedeutet das 7000 km zusätzliche Rohrleitungen. Ich muss der Bevölkerung erklären, dass es uns leid tut, aber dass die Rohre unter den Strassen verlegt werden müssen», sagt er per Videokonferenz aus Paris, wo er sich auf einer Geschäftsreise befindet, die ihn auch nach Zürich führen wird.

Vergessene Stadtteile im Norden?

Die Behörden versichern zwar, dass die benachteiligten Viertel im Norden der Hauptstadt nicht vergessen werden, doch es gibt Stimmen, die daran zweifeln.

Zurück in Muara Angke spazieren wir am Kai entlang, an dem traditionelle Holzfischerboote vor Anker liegen. In der Ferne ragen neben einem imposanten Einkaufszentrum hohe Wohnhochhäuser vor dem Meer empor. Sie scheinen allen Prognosen zum steigenden Wasserstand zu trotzen.

«Diese Menschen werden ganz sicher vor Überschwemmungen geschützt sein», sagt Dwi Sawong von WALHI. Der Kontrast zwischen den kleinen Häuschen mit Blechdächern und diesem hochmodernen Komplex ist frappierend. Er verdeutlicht die Ungleichheiten in Nord-Jakarta, wo einige der reichsten und ärmsten Bewohner:innen der Hauptstadt nebeneinander leben.

Für Dede ist die Aussicht auf einen Anschluss an das Trinkwassernetz ebenso weit entfernt wie ungewiss. In der Zwischenzeit kauft die kleine Familie weiterhin täglich acht Kanister Wasser für 20’000 indonesische Rupien (umgerechnet 1 Schweizer Franken). Das ist eine nicht unerhebliche monatliche Ausgabe, wenn man bedenkt, dass der landesweite Durchschnittslohn bei etwa 3 Millionen Rupien liegt.

«Das Ziel einer 100-prozentigen Versorgung wurde ursprünglich nicht für 2029 festgelegt. Es reicht Jahrzehnte zurück. Die Fortschritte waren sehr langsam», sagt Tiza Mafira, Direktorin der Climate Policy Initiative, einer gemeinnützigen Organisation, die Umweltpolitik analysiert. «Aller Wahrscheinlichkeit nach wird keine Form der Regulierung die informellen Siedlungen erreichen – weder Steuern und Gewerbescheine noch Baugenehmigungen, Wasser, Gas oder Strom. Diese Menschen sind vulnerabel und werden es auch weiterhin bleiben.»

Für die ehemalige Aktivistin gegen Plastikverschmutzung reichen die Bemühungen der Behörden nicht aus. «Ich lebe in einem Viertel, das nicht ans Wassernetz angeschlossen ist, und ich sehe keinerlei Anzeichen dafür, dass sich meine Situation ändern wird», sagt Tiza Mafira, die im Süden Jakartas lebt. «Also schöpfe ich weiter [Wasser].»

Tiza Mafira
Laut Tiza Mafira könnten die Behörden auch gegen die Wasserentnahme vorgehen, indem sie die Haushalte dazu anhalten, Sickerbrunnen oder Regenwassersammelsysteme zu bauen. SWI swissinfo.ch / Dorian Burkhalter

Zwar gibt es theoretisch Regeln, um die Nutzung von Brunnen zu begrenzen, doch solange das Netz nicht ausgebaut ist, können sie nicht angewendet werden.

Eine neue Hauptstadt soll entstehen

Im Jahr 2019 schlug der damalige indonesische Präsident Joko Widodo angesichts unlösbarer Probleme wie Überschwemmungen, Trinkwasserknappheit, Umweltverschmutzung und Verkehr eine radikale Lösung vor: Die Hauptstadt soll mehr als 1000 Kilometer nordöstlich auf die Insel Borneo verlegt werden, wo mitten im Wald eine neue futuristische Stadt namens Nusantara entstehen soll.

Externer Inhalt

Während die ersten Verwaltungsangestellten beginnen, dorthin zu ziehen, und sich die Bauarbeiten erheblich verzögern, scheint der seit 2024 amtierende neue Präsident Prabowo Subianto dem Prestigeprojekt seines Vorgängers keine Priorität mehr einzuräumen. Stattdessen wird nun der Begriff «politische Hauptstadt» bevorzugt verwendet.

Für Dede, Chandra und Saphira sowie viele andere Einwohner:innen Jakartas bleibt Nusantara ein abstraktes Konzept, weit entfernt von ihren Alltagsprioritäten: einer sicheren Wohnung, einem ausreichenden Einkommen, Zugang zu sauberem Trinkwasser oder der Möglichkeit, sich in der Stadt zu bewegen, ohne stundenlang im Stau zu stehen.

Lesen Sie auch unseren Bericht über die Insel Pulau Pari vor der Küste Jakartas. Vier Bewohnende haben die erste Klimaklage in der Schweiz gegen den Zementriesen Holcim eingereicht:

Mehr

Diese Reportage entstand im Rahmen von En Quête d’AilleursExterner Link, einem Austauschprogramm zwischen Journalist:innen aus der Schweiz und Afrika, Osteuropa, Asien oder Lateinamerika. Das Schwerpunktthema 2025 lautet «Wasser in all seinen Formen«.

Editiert von Virginie Mangin. Übertragung aus dem Französischen: Michael Heger.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft