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Kriegsverbrecher und Überlebende nebeneinander

Keystone

18 Jahre nach einem der schrecklichsten Genozide der Geschichte verursacht die Rückgabe geplünderter Güter in Ruanda weiterhin grössere Konflikte. In Huye, im Süden des Landes, regen von der Schweiz unterstützte Organisationen Peiniger und Opfer zur Aussöhnung an.

Auf einem der zahlreichen Hügel im Südwesten Ruandas wird das kleine Dorf Cyendajuru nach und nach von Hektik erfasst. In einigen Stunden geht hier das Lokalfest zum 25. Gründungstag der Ruandischen Patriotischen Front (Front patriotique rwandais FPR) über die Bühne. Die FPR ist seit dem Ende des Völkermordes an der Macht.

Während ein paar Männer versuchen, ein rudimentäres Dachgebälk für das Festzelt aufzurichten, ist im Gemeindesaal nebenan eine andere Versammlung in Vorbereitung. Auf Initiative der Organisation Association Modeste et Innocent (AMI), die von der Schweizer NGO Eirene Suisse unterstützt wird, treffen sich dort jede Woche 40 Überlebende des Genozids sowie ehemalige Gefangene, die wegen Kriegsverbrechen verurteilt wurden, und versuchen, ihre Konflikte friedlich zu lösen.

Die Gacaca, die Volksgerichte, die beauftragt wurden, über die rund zwei Millionen Hutus zu urteilen, die der Teilnahme am Massaker an fast 800’000 Tutsis und gemässigten Hutus beschuldigt worden waren, haben ihre Verdikte am 18. Juni dieses Jahres offiziell abgeschlossen.

Ziel dieser Rechtsprechungen war nicht nur, eine heilsame Übung der nationalen Katharsis in Bewegung zu setzen, sondern auch die Gefängnisse zu leeren, indem die Strafen für Geständige umgewandelt und verkürzt wurden.

Für viele Genozid-Überlebende ist es heute jedoch unerträglich, zuschauen zu müssen, wie die Peiniger in die Gemeinschaft zurückkehren. Die Ex-Gefangenen, die wegen Plünderung oder Zerstörung von Gütern ihrer Opfer verurteilt wurden, haben ihrerseits die Mittel oft nicht, um ihr Unrecht wieder gut zu machen.

Eine a priori verzwickte Situation, eine potenzielle Ursache für ein neues Kippen in die Gewalt und das Grauen, die der ruandischen Gesellschaft noch heute keine Ruhe lassen.

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Ruanda – das afrikanische Singapur

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die sauberen und gut unterhaltenen Strassen im Zentrum der Hauptstadt Kigali unterscheiden sich kaum von jenen in den meisten westlichen Metropolen. Der Wirtschaftsboom, den Ruanda erlebt, ist für den Besucher unübersehbar. Auf dem Land dagegen verursachen die von Präsident Paul Kagamé mit eiserner Hand aufgezwungenen Reformen oft Frustration und Unzufriedenheit. (Samuel Jaberg, swissinfo.ch / Agenturen)

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Den “Frieden des Herzens” wieder finden

“Als wir begannen, Annäherungsgruppen zu bilden, versammelten sich die Ex-Gefangenen und die Überlebenden unter sich auf einer Seite des Gemeindesaals und weigerten sich, miteinander zu sprechen”, sagt David Bazirankende von der AMI gegenüber swissinfo.ch.

Zwei Jahre später hat sich die Stimmung radikal verändert. Die 56-jährige Immaculée Mukankundiye ergreift als Erste das Wort. Die anderen Gruppenmitglieder hören ihr andächtig zu. “Ich hätte nie gedacht, dass ich mich den Mördern meiner Familie nähern könnte. Dank der Gruppensitzungen haben wir wieder freundliche Beziehungen aufgenommen.”

Die Methoden der AMI basieren auf Sozialtherapie, dem Überwinden der Vorurteile, der Verbalisierung der unterdrückten Gefühle, des Umgehens mit Stress durch Atemübungen. Die Widerstandsfähigkeit, “der Frieden im Herzen”, wie man in Ruanda sagt, ist ein grundlegender Antrieb zur Aussöhnung.

Aber im Zentrum des Annäherungs-Dispositivs stehen auch die Reparationszahlung und die Rückgabe von geplünderten oder beschädigten Gütern während des Völkermordes.

Für den ruandischen Staat wurde das Problem durch die Gacaca gelöst. Doch in der Realität können zahlreiche Rückerstattungs-Vereinbarungen nicht verwirklicht werden. “Die Konflikte im Zusammenhang mit der Rückerstattung von geplünderten Gütern verhärten sich infolge der grossen Armut in den ländlichen Gebieten”, sagt Jérôme Strobel von Eirene Suisse gegenüber swissinfo.ch.

Von den 605 Prozessen im Zusammenhang mit Güterrückerstattung in dieser Region, die 4924 Einwohner zählt, konnten deren 154 bisher noch nicht vollzogen werden, wie Athanasie Mukangoga, die Generalsekretärin des Dorfes, gegenüber swissinfo.ch sagt.

Deshalb versucht man, mit Hilfe der Animatoren von der AMI von Fall zu Fall Lösungen zu finden. Dank kleinen monatlichen finanziellen Beiträgen der Gruppenmitglieder konnte beiapielsweise Jativa Muamzabamdora die von ihrem Mann bei drei Dorfbewohnern geplünderten Güter zurückerstatten.

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Freie Presse zeigt Weg der Versöhnung in Ruanda

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Albert-Baudouin Twizeyimana ist ein Mann, der sich in seinem Land dezidiert für mehr Pressefreiheit und Transparenz von Regierung und Behörden einsetzt. Der Chefredaktor der Syfia Grands-Lacs, einer unabhängigen ruandischen Presseagentur, die von der Schweiz und anderen Ländern unterstützt wird, berichtet im Gespräch von zahlreichen Schwierigkeiten, mit denen die Medien in seinem Land zu kämpfen haben.…

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Gemeinsame landwirtschaftliche Aktivitäten

Regelmässig werden auf dem Land eines Genozid-Opfers gemeinsame landwirtschaftliche Aktivitäten organisiert, damit die Schulden so rasch als möglich zurückbezahlt werden können.

“Am Ende des Arbeitstages trinkt man zusammen ein Bier und isst gemeinsam. Das Vertrauen ist wieder hergestellt”, sagt Bertilde Mukanyandwi gegenüber swissinfo.ch. Sie ist überglücklich, dass sie einem Mitglied der Gruppe endlich die Bäume wieder zurückgeben konnte, die sie ihm während des Völkermordes gestohlen hatte.

“Diese gemeinsamen Aktivitäten ermöglichen es auch, die Angst vor Hacken und Buschmessern, die beim ruandischen Genozid verwendet wurden, zum Verschwinden zu bringen. Jetzt werden diese Instrumente wieder zu einfachen landwirtschaftlichen Werkzeugen”, sagt David Bazirankende von AMI.

Wenn es um hohe Geldsummen geht, fordert AMI die Opfer auf, sich nachsichtig zu zeigen und ein Abkommen über den Rückzahlungsmodus zu finden, sofern die Schuldigen aufrichtige Reue zeigen.

Das ist aber nicht immer einfach. “Man schuldet mir noch 35 Millionen ruandische Franken (rund 60’000 Schweizer Franken) für die Plünderung meines Geschäftes, die Zerstörung meines Hauses und die Tötung meiner Kühe”, beklagt sich Générose Mukarwego gegenüber swissinfo.ch. “Jene, die das getan haben, kommen nicht von hier und weigern sich, ihre Schuld zu begleichen.”

Die Diskussion wird vehementer, und dennoch wird dazwischen immer wieder gelacht, was zeigt, welchen Weg diese Gruppe bereits zurückgelegt hat. “Das liegt über allen unseren Erwartungen”, freut sich David Bazirankende. “Dennoch dachte nach dem Genozid niemand daran, dass die Ruander eines Tages wieder zusammenleben könnten.”

Wegen der historischen, geopolitischen und wirtschaftlichen Verflechtung Ruandas, der Demokratischen Republik Kongo und Burundis verfolgt die Schweiz in Sachen Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe eine regionale Politik (Grosse Seen).

2012 wendete der Bund für diese Region 37,7 Millionen Franken auf, hauptsächlich in den Bereichen Gesundheit und Gute Regierungsführung.

Ab 2013 gehören die Grossen Seen zu den so genannten prioritären Regionen der Schweizer Entwicklungs-Zusammenarbeit.

Dabei leitet die Schweizer Kooperation auch Projekte im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung, namentlich in den Sektoren Berufsausbildung, Landwirtschaft und ökologische Produktion von Baumaterialien.

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) schreibt, Ruanda habe seit den tragischen Ereignissen 1994 in den Bereichen Gesundheit, Ausbildung oder Landwirtschafft “bemerkenswerte Resultate” erzielt. Es seien bedeutende Reformen verwirklicht worden, die den Zugang der Bevölkerung zu Grunddienstleistungen verbessert hätten.

Das EDA betont indessen, “dass die wirtschaftliche und soziale Entwicklung nicht auf Kosten eines begrenzten demokratischen Raums laufen darf, eine Tendenz, die in Ruanda sichtbar ist. Tatsächlich wird die Meinungsfreiheit weiterhin eingeschränkt, und die Medien können ihre Rolle nicht vollumfänglich wahrnehmen”.

Zivilgesellschaft

An anderen Orten Ruandas haben sich ebenfalls Organisationen gebildet, mit dem gleichen Ziel des Aufbaus von Bürgervereinigungen, in einem Land, das traditionell auf autoritärer Weise regiert wird.

“Unsere Mitglieder sind zu Relaisstationen der Gemeinschaft geworden. Sie regen die die Behörden an, die Bevölkerung bei öffentlichen politischen Fragen zu konsultieren”, sagt Antoine Mdikuryayo gegenüber swissinfo.ch.

Der 41-jährige Bauer ist Präsident des Clubs von Maraba, der vom Institut de recherche et de dialogue pour la paix (IRDP) geschaffen wurde, das auch von der schweizerischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) finanziert wird.

In einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber swissinfo.ch spricht die Deza von “eindrücklichen Ergebnissen”, die dank dieser gemeinschaftlichen Annäherung erzielt worden seien. Diese Methode werde auch im Zusammenhang mit der Prävention häuslicher Gewalt angewendet.

“Toleranz, gegenseitiges Verständnis zu entwickeln, ermöglicht es vielen durch Konflikte zerrissenen Familien und Gemeinschaften, wieder miteinander zusammen zu leben”, schreibt die Deza.

Trotz all dieser Bemühungen bleibt der Versöhnungsprozess in Ruanda äusserst prekär. Obwohl der ethnische Bezug seit 2003 in der ruandischen Verfassung verboten ist, bleibt er allgegenwärtig. Die ländliche Übervölkerung, die wachsende Ungleichheit zwischen der Hauptstadt und den Provinzen, der Mangel an Bodenschätzen sind Herausforderungen, die das zerbrechliche Gleichgewicht Ruandas gefährden.

Antoine Mdikuyayo gesteht, dass das Leben auf den Hügeln, die weit entfernt sind vom Immobilienboom in der Hauptstadt Kigali, nicht gerade geruhsam ist. Wasser und Strom funktionieren noch nicht ordentlich, und die Ernährung seiner drei Kinder ist eine tägliche Herausforderung.

Aber er sieht es positiv: “Es kommt in unserer Gemeinschaft nicht selten vor, dass ein Sohn eines Kriegsverbrechers eine Tochter eines Überlebenden heiratet, oder umgekehrt. Vor einigen Jahren wäre dies unmöglich gewesen.”

Gut unterhaltene Verkehrskreisel, modernste Verkehrsampeln, extreme Sauberkeit, aussergewöhnliche Sicherheit: Die Strassen von Kigali lassen die Hauptstadt Ruandas wie ein afrikanisches Singapur erscheinen.

Überall in der Stadt schiessen Hotels, Banken, Konferenzzentren aus dem Boden, offenkundiges Zeichen des Wirtschaftsbooms, der das kleine Land mit grossen Ambitionen erfasst hat. In den letzten fünf Jahren verzeichnete Ruanda ein durchschnittliches Jahreswachstum des Bruttoinlandproduktes (BIP) von 8,4%.

Ruanda, das von Präsident Paul Kagamé mit eiserner Hand geführt wird, kann sich auch bedeutender sozio-ökonomischer Fortschritte rühmen: Krankenversicherung für alle, kontinuierlich sinkende Armut (von 60,4% 2000 auf 44,9% 2011), eine Schulbesuchsrate von über 90%. Wenn sich diese Tendenz bestärkt, könnte Ruanda bald die asiatischen “Tigerstaaten” wie China, Vietnam und Thailand einholen.

Das ruandische Wunder ist zum grossen Teil zurückzuführen auf den Boom des Dienstleistungssektors, die geringe Korruption im Land, aber auch auf die massive Unterstützung der internationalen Geldgeber. Gemäss Angaben der Weltbank bietet Ruanda nach Südafrika und Mauritius das vorteilhafteste Klima auf dem ganzen Kontinent für ausländische Investoren an.

Kritische Stimmen sprechen jedoch von einem Augenwischerei-Wunder und beschuldigen die Oligarchie, die an der Macht ist, sich durch die Aneignung der Bodenschätze im benachbarten Kiwu zu bereichern. Die ruandische Regierung, die fast zu 50% von internationaler Hilfe abhängig ist, steht unter Kritik wegen ihrer Unterstützung der Rebellion des M23 in der Demokratischen Republik Kongo.

(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)

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