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Schweiz ändert Kurs bei ukrainischen Geflüchteten – ein Bruch mit Brüssel

Evakuierte wurden aus der ukrainischen Frontlinie in die Region Transkarpatien umgesiedelt.
Evakuierte wurden aus der ukrainischen Frontlinie in die Region Transkarpatien umgesiedelt. Keystone / EPA / Igor Tkachenko

Die Schweiz wird im November Beschränkungen für die Aufnahme einiger Ukrainerinnen und Ukrainer festlegen. Sie erklärt, dass sieben Regionen des vom Krieg zerrütteten Landes sicher genug sind, um dort zu bleiben. Menschen, die näher an den Kampfhandlungen leben, bezweifeln dies jedoch.

Obwohl die Schweiz dem Beispiel der Europäischen Union folgte und den vorübergehenden Schutzstatus S für ukrainische Staatsangehörige bis März 2027 verlängerte, stellt die Einführung geografischer Beschränkungen hinsichtlich der aufzunehmenden Personen eine Abkehr von den EU-Nachbarn dar, die Schutz ohne regionale Unterscheidungen gewähren.

Ab dem 1. November wird das Staatssekretariat für Migration (SEM) gemäss den neuen parlamentarischen Vorschriften die Kriterien für den vorübergehenden Schutz verschärfen, indem es die Regionen der Ukraine entweder als «sicher» oder «unsicher» für eine Rückkehr einstuft.

Antragstellende aus den Regionen Wolhynien, Riwne, Lemberg, Ternopil, Transkarpatien, Iwano-Frankiwsk und Czernowitz riskieren eine Ablehnung ihres Antrags. Derzeitige Inhaberinnen und Inhaber des Status S und ihre Familien sind davon jedoch nicht betroffen.

Norwegen geht voran

Das Nicht-EU-Land hat seine Vorschriften zum vorübergehenden Schutz für Ukrainer noch vor der Schweiz überarbeitet und im Januar 2025 die Liste der RegionenExterner Link, die als sicher für eine Rückkehr gelten, erweitert. 

Wie das norwegische Ministerium für Justiz und öffentliche Sicherheit auf Anfrage von Swissinfo erklärt, erhalten Ukrainer, die seit September 2024 aus „ausreichend sicheren Regionen“ einreisen, keinen kollektiven vorübergehenden Schutz mehr, sondern müssen individuell Asyl beantragen. 

Raheela Chaudhry, Beraterin des Ministeriums, berichtet, dass die Einwanderungsbehörde UDIExterner Link die Sicherheitsbewertung anhand unabhängiger Quellen wie Landinfo durchführt. Landinfo ist eine Stelle, die sich auf Informationen über Herkunftsländer spezialisiert hat und wiederum Informationen aus vielen verschiedenen Quellen sammelt.

«Die Liste der sicheren Regionen kann sich je nach Entwicklung ändern», merkt sie an und fügt hinzu, dass sie im Januar 2025 auf 14 Regionen erweitert wurde. Das Ministerium erklärt, dass diese Massnahme darauf abzielt, «den Zustrom nach Norwegen kontrolliert und nachhaltig zu halten», nachdem die Einreisen Ende 2023 die Gesamtzahl der Einreisen aller anderen nordischen Staaten überstiegen hatten.

Obwohl die Zahlen seither zurückgegangen sind, «lässt sich die isolierte Wirkung dieser Massnahme nicht quantifizieren», so Chaudhry.

«Sichere» Regionen unter Beschuss

Ivan Gomza, Professor an der Fakultät für Sozial- und Geisteswissenschaften der «Kyiv School of Economics», sagt gegenüber Swissinfo, die Logik, die Ukraine in sichere und unsichere Regionen einzuteilen, sei nur teilweise überzeugend.

Portrait Ivan Gomza
Ivan Gomza zVg

So würden Transkarpatien und Czernowitz nach wie vor zu den vergleichsweise sicheren Regionen der Ukraine zählen, obwohl auch diese Gebiete kürzlich Ziel russischer Angriffe geworden sind.

Laut einem Bericht von Reuters wurden im August 2025Externer Link bei einem russischen Raketenangriff auf ein amerikanisches Unternehmen in Mukatschewo, Transkarpatien, 15 Menschen verletzt. Im Juli 2025 wurden bei einem gross angelegten nächtlichen Angriff in Czernowitz zwei Zivilisten durch Trümmerteile einer Drohne getötetExterner Link.

Laut Reuters wurden bei einem russischen Raketenangriff auf ein amerikanisches Unternehmen in Mukatschewo, Transkarpatien, im August 2025 15 Menschen verletzt.
Laut Reuters wurden bei einem russischen Raketenangriff auf ein amerikanisches Unternehmen in Mukatschewo, Transkarpatien, im August 2025 15 Menschen verletzt. Keystone / Newscom / Zakapattia Regional Prosecutor Office

Gomza argumentiert, dass es fragwürdig sei, Lemberg, Riwne und Iwano-Frankiwsk als sichere Regionen zu bezeichnen. «Diese Städte sind regelmässig Angriffen und Energieausfällen ausgesetzt.

Eine solche Grenze zu ziehen, wird schwer zu rechtfertigen sein», sagt er. Er warnt, dass diese Politik unweigerlich als ungerecht empfunden werde. «Im Jahr 2023 durften Menschen unabhängig von ihrem Wohnort in die EU einreisen, während heute einigen, die dies tun möchten, die Tür verschlossen bleibt.»

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Norwegen erhöht die finanzielle Unterstützung für die Ukraine

Obwohl Norwegen strengere Auflagen für den vorübergehenden Schutz ukrainischer Flüchtlinge eingeführt hat, hat es seine Unterstützung für die Ukraine deutlich erhöht. Der Gesamtbetrag beläuft sich auf 85 Milliarden norwegische Kronen (6,7 Milliarden Schweizer Franken), was 50 Milliarden Kronen mehr ist als ursprünglich geplant.

Die Mittel fliessen unter anderem in die militärische Unterstützung, beispielsweise in die Beschaffung von Luftabwehrsystemen, Artillerie-Munition und Drohnen, sowie in die Stärkung der maritimen Fähigkeiten der Ukraine durch die Zusammenarbeit mit der ukrainischen Verteidigungsindustrie.

Darüber hinaus wird Norwegen eine gemeinsame Initiative der nordischen und baltischen Länder zur Ausrüstung und Ausbildung einer ukrainischen Brigade leiten und dabei die Hauptverantwortung für die Ausbildung des Personals übernehmen.

«Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist ein Wendepunkt für Europa und stellt eine ernsthafte Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit in Europa dar», sagte Norwegens Finanzminister Jens Stoltenberg im April.

«Russlands Angriffskrieg geht unvermindert weiter, und Russland rüstet sein Militär rasch wieder auf. Ich bin daher sehr erfreut, dass alle politischen Parteien im Storting [norwegisches Parlament] diese Aufstockung unserer Unterstützung befürwortet haben.»

Die Unterstützung der Schweiz konzentriert sich auf Flüchtlinge

Im Gegensatz zu Norwegen ist der Beitrag der SchweizExterner Link überwiegend an die Kosten für die Aufnahme und Integration von Ukrainerinnen und Ukrainern in der Schweiz gebunden, wobei nur ein kleiner Teil für direkte Hilfe für die Ukraine selbst verwendet wird.

Inhaberinnen und Inhaber einer S-Bewilligung haben in der Schweiz Anspruch auf eine Reihe von Leistungen und Unterstützungsmassnahmen. Dazu gehören Zugang zu medizinischer Versorgung, finanzielle Unterstützung sowie eine Unterkunft, die entweder bei privaten Gastgeber:innen oder in vom Staat bereitgestellten Unterkünften, wie beispielsweise in Genf, liegt.

Im Rahmen dieses Programms erhalten die Kantone jährlich 3000 CHF (3.750 USD) pro Person zur Unterstützung von Integrationsmassnahmen. Kinder können die Schule besuchen und Erwachsene haben die Möglichkeit, Sprachkurse zu belegen. Inhaber:innen einer Aufenthaltsbewilligung haben ausserdem das Recht, in der Schweiz zu arbeiten, und dürfen sich frei im Schengen-Raum bewegen.

Am 8. Oktober beschloss die Schweizer RegierungExterner Link, den Schutzstatus S für aus der Ukraine geflüchtete Personen bis mindestens zum 4. März 2027 beizubehalten. Ab dem 1. November 2025 dürfen sie jedoch nur noch bis zu 15 Tage pro Halbjahr in der Ukraine bleiben statt wie nach den derzeitigen Regeln 15 Tage pro Quartal.

Laut der Schweizer Regierung hat Bern von Februar 2022 bis Ende Mai 2025 rund 5,16 Milliarden Schweizer Franken an Kriegsunterstützung für die Ukraine bereitgestellt, darunter 4,3 Milliarden Schweizer Franken, die über das SEM für die Aufnahme und Integration von Personen mit Status S verwaltet werden.

Laut dem Ukraine Support Tracker des Kieler Instituts für WeltwirtschaftExterner Link haben einige andere europäische Länder wie Norwegen oder Schweden deutlich mehr als diesen Betrag bereitgestellt – insbesondere, wenn es um Hilfe geht, die nicht im Zusammenhang mit Flüchtlingen steht.

Die EU behält den einheitlichen Schutz bei

Im Juni 2025 verlängerte die EU ihre Richtlinie über den vorübergehenden Schutz für aus der Ukraine geflüchtete MenschenExterner Link bis zum 4. März 2027.

Der polnische Innenminister Tomasz Siemoniak vertrat den Standpunkt des Rates: «Während Russland die ukrainische Zivilbevölkerung weiterhin mit wahllosen Luftangriffen terrorisiert, zeigt die EU ihre Solidarität mit dem ukrainischen Volk. Wir werden Millionen von ukrainischen Flüchtlingen ein weiteres Jahr lang Schutz bieten.»

Im Gegensatz zur Schweiz und Norwegen unterscheidet der EU-Rahmen nicht zwischen Herkunftsregionen und gilt gleichermassen für alle vertriebenen Ukrainer:innen.

Gomza ist skeptisch, ob die Schweiz und Norwegen die EU-Politik beeinflussen können. Er räumt jedoch ein, dass einige Mitgliedstaaten ihr Beispiel anführen könnten, um eigene Beschränkungen zu verhängen, beispielsweise hinsichtlich des Alters oder des Geschlechts der ankommenden Ukrainer:innen.

Editiert von Reto Gysi von Wartburg; Übertragung aus dem Englischen mit Hilfe von DeepL von Melanie Eichenberger

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