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16 Jahre Richter in der Diktatur Eritrea – der Rest des Lebens für den Rechtsstaat

Porträt von Habteab Yemane
Habteab Yemane war Richter am Hohen Gericht von Eritrea. Heute lebt er als Flüchtling in der Schweiz und engagiert sich für eine demokratische Zukunft in seinem Heimatland. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

Habteab Yemane wollte Jurist werden, weil er an den Rechtsstaat glaubte. Aber es kam anders. SWI swissinfo.ch erzählt er, wie es dazu kam, dass er Richter an Eritreas Hohem Gericht war – und wie die Diktatur Macht ausübt.

«Ich schwöre im Namen der Eritreischen Märtyrer», beginnt der Amtseid, den Richter:innen leisten sollen. So steht es in Eritreas Verfassung von 1997. Die Richter:innen schwören, Recht im Namen der Verfassung und der Gesetze zu sprechen. Sie sollen nur ihrem Gewissen folgen und sich nicht persönlich bevorteilen.

Habteab Yemane war Richter am Hohen Gericht von Eritrea. Den Amtseid hat er nie geleistet.

So wie auch niemand anderes, denn Eritreas Verfassung von 1997 wurde nie umgesetzt. «Das sind gute Artikel», sagt Yemane, während er mit SWI swissinfo.ch durch die Verfassungsartikel geht. Doch mit der Realität hätten sie leider nichts zu tun.

Heute lebt Yemane als Flüchtling in der Schweiz und engagiert sich für eine demokratische Zukunft in seinem Heimatland. In Eritrea war er 16 Jahre lang im Richteramt, aber nur «provisorisch».

Yemane erzählt SWI swissinfo.ch in den Gemeinschaftsräumen einer Kirche in Bern, wie das System unter Diktator Isayas Afewerki funktioniert – und wie er die Schweizer Demokratie erlebt.

Habteab Yemane schaut etwas auf dem Smartphone an.
Auf dem Smartphone von Yemane ist die Verfassung Eritreas von 1997 zu sehen. Umgesetzt worden ist diese bis heute nicht. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

Die Verfassung, die seit fast 30 Jahren auf Umsetzung wartet und alle Richter:innen bloss «provisorisch» im Amt: Es sei diese Behauptung der Vorläufigkeit und die dadurch fehlende Rechtssicherheit, mit der die Diktatur ihre Macht ausübe.

Habteab Yemane, Jurist in Eritrea, Flüchtling in der Schweiz

Als junger Mann hatte Yemane Hoffnungen für das Land, das 1993 von Äthiopien unabhängig geworden ist.

Er gehörte zum ersten Abschlussjahrgang nach der Unabhängigkeit der juristischen Fakultät der Universität von Asmara. Er studierte Recht für einen Rechtsstaat. «Strafgesetz, Verfassungsrecht, Menschenrechte, Grundrechte, die dir die Regierung nicht nehmen kann», erinnert er sich. Ein Teil der Dozierenden kam aus den USA.

Doch anwenden konnte er das Wissen und die Ideale nicht. Die bestimmenden Kräfte im Land waren schon in den 1990er-Jahren die Sieger im Unabhängigkeitskrieg gegen Äthiopien. «Wir glaubten damals noch, auch wegen Propaganda, dass sie für einen Rechtsstaat und für ein besseres Land eintreten», erinnert sich Yemane.

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Grosse Zeitungspläne im jungen Land

«Ich habe noch nie an einer Wahl teilgenommen», sagt er heute. Eritrea gilt mittlerweile als eine der repressivsten Diktaturen, die ihre Landsleute auch im Ausland verfolgt und unter Druck setzt.

Nach seinem Abschluss 1998 gründete Yemane mit Freunden eine Zeitung. Sie seien jung und ambitioniert gewesen. «Grosse Pläne, wissen Sie.» Der inhaltliche Fokus lag auf Politik und Recht. «Wir nutzten das Wissen aus dem Studium für unsere Zeitung und beantworteten rechtliche Fragen aus der Bevölkerung.» Schnell war die Zeitung erfolgreich und habe eine Auflage von 40’000 Exemplaren erreicht.

Nicht schlecht im Land, das damals gut zwei Millionen Einwohner:innen hatte. Für eine Zeit ging Yemane nach Indien, für weiterführende Studien.

Im Herbst 2001 kam er mit Koffern voller Büchern zurück nach Eritrea. Bücher über Gesetze, Frauen- und Kinderrechte, aber auch mit dem Guinness Buch der Weltrekorde – daraus hoffte er unterhaltsame Meldungen für die Zeitung zu ziehen. Internet hatte in Eritrea hatte noch niemandExterner Link.

2001: Journalisten sind «Gefangene des Präsidenten»

Am ersten Morgen nach seiner Rückkehr ist Yemane in den Barbershop in Asmara, wo sich sein Freundeskreis regelmässig getroffen hat. Wann immer Yemane in den Barbershop kam, sei er herzlich umarmt worden. «Doch dieses Mal waren alle geschockt: ‹Warum nur bist du gekommen?’»

Alle Journalist:innen seiner Zeitung seien bereits eine Woche davor inhaftiert worden. 

Yemane glaubte zunächst, er könne seine Freunde vor Gericht verteidigen. Er ging zum Gefängnis – brachte Essen und Bücher. «Doch die Wache sagte: Nur Essen ist erlaubt. Dem habe ich widersprochen, denn gemäss Gesetz hat ein Gefangener viele Rechte, auch das Recht auf Bücher.»

Immer noch im Glauben in einem Rechtsstaat zu leben, sei Yemane zum Polizeichef gegangen. «Er sagte mir, das seien nicht seine Gefangenen – sondern die Gefangenen des Präsidenten. Und: Er wolle nicht die Schuld für mein Blut übernehmen. Dann schickte er mich nach Hause.»

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Der Nationaldienst und Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Ab da sei er so richtig eingeschüchtert gewesen, erzählt Yemane. Er habe gewusst, dass sein Traum aus ist. Er habe die Hauptstadt Asmara verlassen und sich ruhig verhalten. Im Januar 2002 sei dann der Brief gekommen. Jener mit der «provisorischen» Ernennung zum Richter. Als Richter bekam er auch keinen echten Lohn, weil er in der Logik der Diktatur einen Dienst leistete.

Von seinen Freunden im Gefängnis hörte Yemane nie wieder etwas.

Habteab Yemane während dem Interview
Folgt man Yemane übt die eritreische Diktatur so ihre Macht aus: Durch das Unwissen, woran man ist. Durch die konstante Angst, dass man in einem Gefängnis verschwindet. Und die Unmöglichkeit, offen seine Meinung zu sagen. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

Alle Menschen in Eritrea werden seit Anfang der Nullerjahre zum sogenannten «Nationaldienst» einberufen. Einem zeitlich unbeschränkten, militarisierten Dienst, über den das Leben organisiert ist. Dieses System ist laut UNO-Berichten Schauplatz für viel Unrecht.

Eine UNO-Kommission schilderte in ihrem Bericht 2016 Verbrechen gegen die MenschlichkeitExterner Link, die «weitverbreitet und systematisch» in Militärtrainingscamps und Haftanstalten Eritreas verübt werden. Die Verbrechen geschehen nicht auf «offener Strasse in Asmara», weshalb ein Besucher sie übersehen könne. Dafür, dass die Täter verfolgt würden, gibt es laut UNO-Kommission in Eritrea «keine echte Aussicht», weil die Justiz nicht unabhängig ist.

Eine Säule der Regierung? «Nein»

«Nein», sagt Yemane auf die Frage, ob er durch sein Tun zu einer Säule der Regierung geworden sei. «Weil dem Justizsystem bereits alle Macht genommen war.» Yemane sagt, in Eritrea entscheide das Militär. «Militärleute können absolute Macht ausüben.»

Das Justizsystem in Eritrea ist geteilt. Vor sogenannten SpezialgerichtenExterner Link landen jene Fälle mit einer gesellschaftlichen Dimension.

Am Hohen Gericht entschied Yemane deswegen nur in den «Fällen, an denen die Regierung kein Interesse hatte». Das seien keine kleinen Fälle gewesen: Erbsachen, Scheidungen, Gewalt. «Manchmal befanden wir als letzte Instanz in Mordfällen – ob jemand seinen Nachbarn getötet hat. Zur Hand war uns das Strafgesetz, das wir von Äthiopien geerbt haben», so Yemane.

Wie Gerichtsverhandlungen ohne Rechtsstaat aussehen

«Wir versuchten faire Verhandlungen zu wahren», sagt er. Das ging bei Fällen, die für Regierung und Militär irrelevant waren. «Bei allem, wo die Regierung Interessen hat, hat das Gericht keine Macht.» 

Es sei auch vorgekommen, dass Anwält:innen einfach nicht erschienen sind. Dann habe man gewusst, was Sache ist. «Wenn eine Partei einen einflussreichen Verwandten hatte, wurde oft der Anwalt der Gegenseite verhaftet.» Manchmal sei auch einfach die Person, die klagt, verschwunden.

Nicht alles, was Yemane erzählt, lässt sich überprüfen. Ein Artikel auf dem Blog Human Rights Concern EritreaExterner Link von 2009 schildert die Geschichte der Zeitung, Yemanes Beteiligung – und die Wochen der brutalen Gleichschaltung: «Die nächste Generation wird vom Opfer und dem Preis wissen, den eritreische Journalisten gezahlt haben.»

Ein Text des eritreischen PropagandaministeriumsExterner Link von 2011 wiederum bestätigt Yemanes Tätigkeit als Richter: An einem Regierungssymposium sei er «auf die unermüdlichen Bemühungen eingegangen, das bestehende Strafrecht zu ändern, um ein gerechtes System zu etablieren.»

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Wie Habteab Yemane die Demokratie in der Schweiz erlebt

Nach 16 Jahren als Richter ist Habteab Yemane 2017 geflohen. In Jegenstorf, einem Ort mit knapp 6000 Einwohner:innen im Kanton Bern, verbrachte er die erste Zeit seines Asylverfahrens in der Schweiz.

Bereits dort sind ihm auch im Kleinen Dinge aufgefallen, die einen demokratischen Rechtsstaat ausmachen. Er sah Plakate für die lokalen Wahlen und von den Plakaten blickte eine Frau aus dem Dorf, die er schon kannte.

Aber mindestens so beeindruckt wie die Wahlen im Dorf war Yemane davon, dass allen Einwohner:innen das Gemeindebudget zugestellt worden ist.

Habteab Yemane gestikuliert während dem Interviews
Habteab Yemane ist im Jahr 2017 in die Schweiz geflohen. Ein Drittel der Bevölkerung Eritreas ist ins Ausland geflohen. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

«Das war für mich eine Offenbarung», sagt Yemane, «In Eritrea kennen nur zwei Leute die Finanzen: der Präsident und der Wirtschaftsminister.» Dort sei es unvorstellbar, dass man weiss, wie viel Geld das Land zur Verfügung hat – und schon gar nicht, wie viel ein einzelnes Dorf. «Und hier schickt das Dorf mir, einem Flüchtling, sein Budget mit allen Einnahmen und Ausgaben.»

Solche Momente haben ihn mit der Demokratie vertraut gemacht. Und mit den Sicherheiten, die sie den Einwohner:innen bietet.

Wer das Budget kennt, hat eine Grundlage zu argumentieren, kann kritisieren oder für eine Veränderung eintreten. «Hier habe ich die Macht des Volkes auf Ebene eines Dorfs erlebt: Es hat seine eigene Regierung, seine Gemeindepräsidentin und sein eigenes Budget – und die Leute haben das Recht zu erfahren, was passiert», erzählt er.

Yemane sieht Eritrea im Kontrast dazu: Kein Budget, keine Transparenz, keine Rechtssicherheit – nicht mal als Richter. Damit Richter:innen unabhängig Recht sprechen können, müssen sie geschützt sein. Sie müssen sicher sein können, dass über ihr allfälliges Missverhalten nach einem klar festgelegten Prozess entschieden wird. Nur so kann verhindert werden, dass sie von der Politik unabhängig agieren. Doch all diesen Schutz gibt es nicht, wenn ein System behauptet, die Ernennung zum Richter sei bloss provisorisch.

Weiterhin «schlimme» Lage in Eritrea

Folgt man Yemane übt die eritreische Diktatur so ihre Macht aus: Durch das Unwissen, woran man ist. Durch die konstante Angst, dass man in einem Gefängnis verschwindet. Und die Unmöglichkeit, offen seine Meinung zu sagen.

Nach dem UNO-Kommissionbericht 2016 gab es international viel Aufmerksamkeit für die Menschenrechtssituation in Eritrea.

Die damals verantwortliche Sonderberichterstatterin Sheila B. KeetharuthExterner Link schilderte vor der UNO-Generalversammlung in New York, wie verbreitet willkürliche Haft, gewaltsames Verschwindenlassen, massive Folter und Vergewaltigungen «nicht nur gegen eine grosse Zahl Frauen, sondern auch gegen Männer» seien.

Keetharuth forderte das Internationale Strafgericht und alle UNO-Staaten dazu auf, gegen die Verdächtigen aktiv zu werden. Viel passiert ist seither nicht.

Die Situation sei weiterhin «schlimm» heisst es im 2024 erschienen Bericht des heutigen UNO-Sonderberichterstatter für EritreaExterner Link, Mohamed Abdelsalam Babiker. Systematisches Verschwindenlassen, willkürliche Haft – zudem betont Babiker auch die transnationale Repression.

Babiker forderte von den Staaten, in denen geflüchtete Eritreer:innen leben, diese vor der Diktatur zu schützen. Denn die Diktatur, der sie entflohen sind, ist auch in Ländern wie der Schweiz aktiv.

Die verschiedenen Methoden des eritreischen Regimes hindern, so Babiker, Eritreer:innen überall auf der Welt daran, ihre Redefreiheit zu nutzen.

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Strukturen des Regimes in der Schweiz

«Du weisst, wenn du hierherkommst, dass auch die Agenten des Regimes hier sind. Also musst du vorsichtig sein», sagt Yemane. Die Strukturen des eritreischen Regimes seien in der Schweiz sehr lebendig. Er findet, die Schweizer Politik nimmt dies zu wenig ernst. «Die Akteure einer Diktatur kommen hierher – und machen auch Propaganda gegen die Schweiz und westliche Werte.»

Habteab Yemane während dem Interview
Habteab Yemane sind in der Schweiz schon früh Dinge aufgefallen, die einen demokratischen Rechtsstaat ausmachen. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

Bei der Schweizer Polizei erlebe er aber ein Umdenken. Die sogenannten «Kulturfestivals», die eritreische Regierungsanhänger in der Schweiz durchführen, würden nun kritisch beäugt.

Die ersten Jahre nach seiner Ankunft in der Schweiz lebte Yemane in Angst vor Eritreas Regierung. Dann legte er seine Furcht ab und begann, seine neue Redefreiheit zu nutzen.

Heute engagiert sich Habteab Yemane dafür, dass die Schweiz diese transnationale Repression als solche anerkennt und angeht. Und er engagiert sich in der eritreischen Diaspora-Opposition, wo er auch Ideen entwickelt, wie der Rechtsstaat in einem demokratischen EritreaExterner Link aussehen würde.

Angst vor der Öffentlichkeit hat er keine mehr. Er glaubt, dass ihn die Öffentlichkeit vor der Regierung Eritreas schützt.

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