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Warnungen vor einer Hungersnot in Gaza werden lauter

Menschen mit Töpfen bitten um Nahrung
Die Situation im belagerten Gazastreifen spitzt sich zu. 2025 Anadolu

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und humanitäre Helfer schlagen angesichts der katastrophalen humanitären Lage im Gazastreifen Alarm. Sie warnen vor einer Hungersnot und lehnen israelische Vorschläge zur Übernahme von Hilfsmassnahmen in das belagerte Gebiet ab.

Diese Warnungen sind zwar nicht neu, aber die Lage hat sich in den letzten Wochen drastisch verschlechtert. Nach dem Scheitern des vorläufigen Waffenstillstands zwischen der Hamas und Israel wurde eine totale Blockade von Lebensmitteln, Hilfsgütern und medizinischen Gütern wieder eingeführt.

Der Zugang für humanitäre Hilfe ist seit dem 2. März stark eingeschränkt, und die israelischen Militäroperationen im Gazastreifen wurden am 17. März mit voller Kraft wieder aufgenommen.

«Wir sind nach wie vor zutiefst besorgt über die katastrophale Lage im Gazastreifen, wo bisher mehr als 52’000 Tote zu beklagen sind», sagte Dr. Hanan Balkhy, WHO-Regionaldirektorin für den östlichen Mittelmeerraum, am Dienstag bei einem Medienbriefing.

In der Videoansprache beschrieb sie ein Gesundheitssystem im freien Fall: «Tausende von Gesundheitsfachkräften wurden getötet, verletzt oder inhaftiert. Die Spitäler, die noch geöffnet sind, sind kaum betriebsbereit. Menschen sterben, während lebensrettende medizinische Hilfsgüter ausserhalb des Gazastreifens lagern und deren Zugang verweigert wird.»

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Nach neun Wochen Blockade schlagen die israelischen Behörden nun vor, das bestehende, von der UNO geleitete System zur Verteilung der humanitären Hilfe aufzulösen und durch ein vom Militär kontrolliertes System zu ersetzen, so Balkhy. Sie machte deutlich, dass die UNO und die WHO ein solches Vorgehen nicht unterstützen werden.

«Die WHO und die UNO werden sich nicht an einer Initiative beteiligen, die gegen humanitäre Grundsätze verstösst. Die Hilfe muss die Bedürftigen erreichen, wo auch immer sie sind – und die Blockade muss beendet werden», sagte Balkhy.

Ein Kollege von ihr wies darauf hin, dass dies gegen die Grundsätze der Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit und Menschlichkeit verstossen würde, die die humanitäre Hilfe leiten.

Folgt eine Ausweitung des Kriegs?

Das israelische Sicherheitskabinett hat in diesem Monat einen Plan zur Ausweitung der Militäroffensive gegen die Hamas gebilligt, der die «Einnahme» des Gazastreifens und das Halten seines Territoriums vorsieht.

Israelische Beamte haben einen neuen Plan für die Bereitstellung humanitärer Hilfe mit Hilfe einer amerikanischen privaten Wohltätigkeits- und Sicherheitsfirma ins Spiel gebracht.

«Die Idee des Modells ist, dass die Hamas nicht in der Lage sein wird, humanitäre Hilfe in Anspruch zu nehmen», sagte Danny Danon, Israels Botschafter bei der UNO, am 7. Mai gegenüber Medien.

Am Sonntag genehmigte das israelische Kabinett die «Option der humanitären Verteilung, falls notwendig», unter der Bedingung, dass die Hamas diese Lieferungen nicht kontrollieren kann, so ein Bericht der Washington PostExterner Link unter Berufung auf einen israelischen Beamten. Mehrere UNO-Organisationen haben Bedenken geäussert über das, was sie als Instrumentalisierung von Hilfsgütern («weaponisation of aid») bezeichnen.

Drei Viertel der Bevölkerung des Gazastreifens befinden sich derzeit entweder in einem «Humanitären Notfall» oder in einer «katastrophalen» Ernährungssituation – dies sind die beiden strengsten Einstufungen auf der fünfstufigen IPC-SkalaExterner Link (Integrated Food Security Phase Classification).

Balkhy sagt eine rasche Verschlechterung der Lage voraus, wenn keine dringenden Massnahmen ergriffen werden. «Noch ist keine Hungersnot ausgerufen worden», stellte sie fest, «aber die Menschen hungern, und Krankheiten breiten sich rasch aus».

Die Warnungen der WHO kommen vor dem Hintergrund zunehmender internationaler Kritik an der anhaltenden Belagerung des Gazastreifens, wo UNO-Organisationen über extreme Hindernisse bei der Bereitstellung humanitärer Hilfe berichten. Die Schweiz, Depositarstaat der Genfer Konventionen und Gastland der WHO, hat ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe gefordert.

Bern ist aber auch in die Kritik geraten, weil es ein ursprünglich für den 7. März geplante Nahost-Konferenz in Genf absagte. Nach Angaben des Schweizer Aussenministeriums wurde die Initiative abgesagt aufgrund «tiefgreifender Differenzen» zwischen den Staaten, die das Vorhaben undurchführbar machten.

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Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat in diesem Monat eine Anhörung zu Israels Blockade der humanitären Hilfe für den Gazastreifen eingeleitet. UNO- und palästinensische Beamte beschuldigen Israel, durch die Einschränkung lebenswichtiger Lieferungen gegen internationales Recht zu verstossen.

Israel behauptet, es werde keine Hilfslieferungen zulassen, solange die Hamas nicht alle verbleibenden Geiseln freilässt, die bei den Angriffen vom 7. Oktober 2023, bei denen mindestens 1195 Israelis getötet wurden, nach Gaza verschleppt wurden.

In einer Rede vor der UNO im September 2024 stellte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu eine Verbindung zwischen humanitärer Hilfe und dem Überleben der Hamas her.

«Die Terroristen üben immer noch eine gewisse Regierungsgewalt im Gazastreifen aus, indem sie die Lebensmittel stehlen, die wir Hilfsorganisationen in den Gazastreifen bringen lassen», behauptete er.

Grimmige Berichte von vor Ort

Der WHO-Vertreter für die besetzten palästinensischen Gebiete, Rik Peeperkorn, berichtete aus Deir al-Balah, einer Stadt im Gazastreifen, über die aktuelle Lage vor Ort: «Die Gefahr einer Hungersnot in Gaza nimmt zu. Dies wird durch die absichtliche Zurückhaltung der humanitären Hilfe verursacht… Die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens ist auf die eine oder andere Weise betroffen.»

Nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums in Gaza sind bereits 57 Kinder an den Folgen der Unterernährung gestorben. «Wenn die Situation anhält, werden in den kommenden Monaten voraussichtlich fast 71’000 Kinder unter fünf Jahren akut unterernährt sein», sagte Peeperkorn.

Er warnte vor einer zunehmenden Ernährungskrise bei den gefährdeten Bevölkerungsgruppen. Vor der Blockade gab es in Gaza keine Fälle von Unterernährung bei schwangeren oder stillenden Frauen, nur Eisenmangel. Wenn sich jedoch nichts ändert, «werden voraussichtlich fast 71’000 schwangere und stillende Mütter wegen akuter Unterernährung behandelt werden müssen».

Peeperkorn sagte, dass der Zugang zur Gesundheitsversorgung für die meisten Menschen im Gazastreifen «zunehmend unerreichbar» sei, dass die Zahl der Impfungen stark abnehme und 90% der Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser hätten. All diese Faktoren erhöhen das Risiko von schweren Erkrankungen und Todesfällen, insbesondere bei den schwächsten Bevölkerungsgruppen.

«Die Blockade der Hilfe muss aufgehoben werden», sagte er. «Die humanitären Helfer müssen ihre Arbeit tun.»

Peeperkorn beschrieb die jüngsten Besuche vor Ort, bei denen WHO-Teams schwindende Vorräte an Trauma-Kits und Nahrungsmitteln an vier Spitäler im nördlichen Gazastreifen lieferten. «Derzeit haben wir nur genug, um weitere 500 Kinder gegen akute Unterernährung zu behandeln – ein Bruchteil dessen, was benötigt wird.»

Zu wenig Essen, zu wenig medizinische Hilfgsüter

Die medizinischen Hilfsgüter und Nahrungsmittel gehen schnell zur Neige. Antibiotika, Insulin, Trauma-Ausrüstung, Dialysefilter, Desinfektionsmittel – all dies sei gefährlich knapp, so Peeperkorn.

Mehr als 31 Lastwagen warten auf Nachschub aus Al Arij, weitere befinden sich im Westjordanland. Auch das Welternährungsprogramm (WFP) und Unicef halten sich bereit.

Die WHO und ihre UNO-Partner betonen, dass das System zur Koordinierung der humanitären Hilfe erprobt und einsatzbereit ist. «Es gibt ein gut etabliertes und bewährtes System zur Koordinierung der humanitären Hilfe, das von der UNO und ihren Partnern geleitet wird», sagte Peeperkorn.

«Ich war auch während des Waffenstillstands hier, und es strömte eine riesige Menge an Hilfsgütern herbei. Sehr schnell gab es verschiedene Lebensmittel und medizinische Hilfsgüter.»

Die Pflegenden sind selbst unter Stress

Helfende wie Alice Skaar, eine norwegische Krankenschwester des Norwac Emergency Medical Team, haben die Kosten für die Menschen aus erster Hand miterlebt.

«In Gaza wird alles rezykliert», sagte sie gegenüber Medien von Gaza aus. Sie beschrieb, wie die Pflegenden Verpackungen als Brennmaterial mitnehmen, wenn sie nach Hause in ihre Zelte gehen.

Die Mitarbeitenden seien erschöpft, deprimiert und hätten Angst um ihre Familien, fügte sie hinzu. Doch trotz der Verwüstung, so Skaar, sei das Engagement des Gesundheitspersonals in Gaza unerschüttert.

«Sie beten mehr», sagte sie. «Die Religion scheint ihre letzte Hoffnung zu sein. Aber selbst jetzt, inmitten von so viel Schmerz, kümmern sie sich weiterhin mit grosser Hingabe um die Patientinnen und Patienten.»

Seit Beginn der israelischen Operationen im Gazastreifen sind mindestens 284 Mitarbeitende des Flüchtlingshilfswerks UNRWA getötet worden. Das israelische Parlament stimmte im vergangenen Herbst dafür, das Hilfswerk als terroristische Vereinigung einzustufen, und israelische Beamte sind der Ansicht, dass die UNO die israelischen Sicherheitsbedenken regelmässig missachte.

Ediert von Virginie Mangin/ml-sb, Übertragung aus dem Englischen: Giannis Mavris

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