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Zürichs 2000-Watt-Experiment – wie es sich entlang der Planetaren Grenzen lebt

Ein Viertel mit Wohngebäuden
Die Wohnüberbauung Hunziker Areal in Zürich wurde von der 2'000-Watt-Gesellschaft inspiriert. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

In Zürich lebt eine einzigartige Baugenossenschaft Nachhaltigkeit vor. Die Abkehr von alten Gewohnheiten fällt aber nicht immer leicht, räumen einige Bewohner:innen ein Jahrzehnt nach dem Start des Modells ein.

Das Hunziker Arealliegt im Norden Zürichs und sieht wie eine gewöhnliche, moderne Wohnanlage aus. Doch hinter den Fassaden verbirgt sich ein Experiment: Wenn es gelingt, wäre es ein Modell für Hunderttausende Menschen in der ganzen Schweiz.

Der vor zehn Jahren von der Genossenschaft «mehr als wohnen» errichtete Komplex ist von der 2000-Watt-Gesellschaft inspiriert. Dieses Konzept wurde Ende der 1990er-Jahre von Forscher:innen der ETH Zürich entwickelt und später in die langfristige Energie- und Klimastrategie der Schweiz aufgenommen.

Die Idee dahinter: Jeder Mensch soll gut leben können und dabei nicht mehr als 2000 Watt Dauerleistung verbrauchen. Das entspricht etwa 17’500 Kilowattstunden pro Jahr, rund einem Drittel des heutigen durchschnittlichen Energieverbrauchs in der Schweiz. Ihn zu reduzieren gilt als entscheidend für das Erreichen der nationalen Klimaziele.

Ziel: Den Energieverbrauch im Einklang mit den globalen Klimazielen auf etwa 17’500 kWh pro Person und Jahr (2000 W) und die CO₂-Emissionen auf eine Tonne pro Person zu begrenzen. Derzeit liegt der Energieverbrauch der Schweiz bei durchschnittlich 5500–6000 Watt pro Person und damit nur geringfügig niedriger als in den 1990er-Jahren, während der konsumbasierte CO₂-Fussabdruck mit 10 bis 14 Tonnen CO₂/Person/Jahr deutlich höher ist – etwa zehnmal so hoch wie das Ziel von einer Tonne.

Umsetzung: Seit Zürich das 2000-Watt-Ziel im Jahr 2008 übernommen hat, sind mehrere Schweizer Städte diesem Beispiel gefolgt. Zertifizierte 2000-Watt-Quartiere müssen strenge Kriterien hinsichtlich Gebäudeeffizienz, Nutzung erneuerbarer Energien, gemeinschaftlicher Mobilität und kompaktem Wohnen erfüllen.

Bezug zu Minergie: Die 2000-Watt-Zertifizierung baut heute auf dem Minergie-Energieeffizienzstandard auf, geht aber darüber hinaus und berücksichtigt die in den Materialien enthaltene Energie sowie soziale Nachhaltigkeit. 2025 werden mehr als 30 Projekte in der Schweiz als 2000-Watt-Anlagen zertifiziert sein oder sich im Zertifizierungsprozess befinden.

Die 13 Gebäude des Hunziker Areals sind mit energieeffizienter Beleuchtung und Geräten ausgestattet. Gemeinsam genutzte Flächen und autofreie Innenhöfe zeigen, dass ein komfortables Leben in der Stadt durchaus energieeffizient sein kann.

«Wenn du hier wohnen möchtest, gibst du dein Auto auf», sagt Werner Brühwiler, Gründungsmitglied und Bewohner des Hunziker Areals seit der Eröffnung 2015. «Du kannst zwar noch Auto fahren, aber du kannst nicht vor deiner Haustür parkieren.»

Knapp zehn Jahre später hat das Hunziker Areal seine Emissionen weiter reduziert und ähnliche Projekte in der ganzen Schweiz inspiriert. Laut seiner 2000-Watt-Rezertifizierung erzeugt das Viertel etwa 16,6 Kilogramm CO₂-Äquivalent pro Quadratmeter, das sind rund 20% weniger als der Grenzwert des Labels.

Die Gebäude verbrauchen dank effizienter Heizungs-, Warmwasser- und Lüftungssysteme zudem nur etwa ein Viertel der Energie eines durchschnittlichen Schweizer Wohngebäudes.

Doch das Quartier zeigt auch, wie schwierig es ist, Gewohnheiten zu ändern, die man sich im Laufe eines Lebens angeeignet hat.

Die Bewohner:innen haben gelernt, mit weniger Platz, weniger Autos und gemeinschaftlich genutzten Einrichtungen zu leben – und auch mit den sozialen Spannungen, die sich aus der Neudefinition von Komfort und Bequemlichkeit mit Blick auf die begrenzten Ressourcen unseres Planeten ergeben.

Die Lehren aus diesem Projekt reichen weit über Zürich hinaus: Sie zeigen, dass Nachhaltigkeit ebenso eine soziale wie eine technische Herausforderung darstellt.

Zwei Personen sitzen auf einer Couch
Uschi Ringwald und Werner Brühwiler sitzen in ihrer Wohnung, in der sie seit der Gründung des Hunziker Areals leben. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

Neue Gewohnheiten entwickeln

Auf dem Papier scheint die Genossenschaft ihre Ziele zu erreichen. Sie nutzt Fernwärme aus der Zürcher Kehrichtverbrennungsanlage sowie Solarthermieanlagen auf den Dächern und hält den Energieverbrauch pro Bewohner nahe am Zielwert von 2000 Watt.

Dank effizienter Armaturen, gemeinschaftlich genutzter Waschküchen und der Regenwassernutzung für die Gärten liegt der Wasserverbrauch unter dem Durchschnitt. Vorrichtungen wie diese integrieren Nachhaltigkeit in den Alltag der Bewohner:innen, ohne dass sie dafür bewusst ihren Lebensstil ändern müssen.

Zahlen erzählen einen Teil der Geschichte. Doch ich wollte sehen, wie kleine Schritte hin zu mehr Nachhaltigkeit für die Bewohner:innen zum Alltag werden. In den letzten Jahren hat auch meine Familie ohne viel Aufhebens ein umweltfreundlicheres Leben ausprobiert: Wir fahren Velo statt Auto, nehmen den Zug statt zu fliegen und versorgen unser Haus auf dem Land mit Solarenergie und einer Wärmepumpe.

Manche Anpassungen sind einfach, wie der Austausch von Haushaltsgeräten. Andere, wie der Umstieg auf vegetarische Gerichte, erfordern bewusste Entscheidungen im Alltag.

Im Hunziker Areal prallen Ideale häufig auf Alltagsgewohnheiten. Weniger Fleisch zu essen zählt zu den effektivsten Massnahmen, um den individuellen CO₂-Ausstoss zu senken. Dennoch ist der Anteil derjenigen im Areal, die wenig oder gar kein Fleisch essen, leicht gesunken.

Brühwiler bezeichnet sich selbst als Flexitarier, und zwar unfreiwillig aus gesundheitlichen Gründen. «Ich wurde gezwungen, weniger Fleisch zu essen», sagt er. «Als man mir sagte, ich müsse meinen Fleischkonsum reduzieren, bin ich zuerst noch eine Wurst essen gegangen, sozusagen als letztes Mahl. Aber meine Partnerin ist die Küchenchefin hier und eher vegetarisch unterwegs, also habe ich mich daran gewöhnt.»

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Ich kann die Umstellung gut nachvollziehen: Ich bin vor drei Jahren Vegetarier geworden, aber es hat Jahre der Experimente und Anpassungen gebraucht, bis es mir als selbstverständlich erschien.

Brühwilers Partnerin Uschi Ringwald sagt, sie habe ihren Fleischkonsum hauptsächlich aus finanziellen Gründen reduziert. «Ich versuche, das beste Essen zu kaufen, das ich mir leisten kann, aber als Pensionärin kaufe ich beim Discounter ein.»

Für sie stellte der Verzicht auf ihr eigenes Auto die grösste Umstellung dar. Obwohl Zürich über eines der effizientesten öffentlichen Verkehrssysteme der Welt verfügt, kommen in der Stadt immer noch 467 Autos auf 1000 Einwohner:innen – deutlich mehr als in Kopenhagen, Amsterdam oder Paris, wo nur noch 250 von 1000 Bewohner:innen ein Auto besitzen.

Doch diese Veränderung kann sich auszahlen. Laut den jüngsten Messungen sind Emissionen, die von den Bewohner:innen des Hunziker Areals durch die Nutzung privater Verkehrsmittel erzeugt wurden, auf nur noch 0,13 Tonnen CO₂ pro Person und Jahr gesunken. Damit liegen sie weit unter dem Zürcher Durchschnitt von etwa 0,8 Tonnen.

Das Gemeinschaftsideal und seine Grenzen

Das Hunziker Areal wurde nicht nur als Modell für energiearmes Wohnen konzipiert, sondern auch als soziales Experiment – als Test, ob Menschen nachhaltiger und gemeinschaftlicher leben können, denn in der gemeinsamen Nutzung von Räumen verbinden sich soziale und ökologische Aspekte.

Die Gebäude sind so konzipiert, dass sie eine gemeinschaftliche Nutzung leicht machen. Jede Wohnung verfügt über eine eigene Küche und einen privaten Bereich, aber der Komplex umfasst auch Gemeinschaftsküchen, Veranstaltungsräume und Werkstätten, in denen Nachbar:innen kochen, Gegenstände reparieren oder sich treffen können.

Mit einer durchschnittlichen Wohnfläche von etwa 34 m² pro Person sind die Wohnungen kompakt – im Vergleich zu 39 m² in Zürich und über 45 m² im Landesdurchschnitt. Dieser reduzierte Wohnraum hilft im Hunziker Areal, den Energieverbrauch für Heizung und Baumaterialien zu senken.

Anfangs, so erinnern sich die Bewohner:innen, herrschte hier ein reges Treiben. Die Menschen verliessen ständig ihre Wohnungen, um sich zu treffen: Wöchentliche Abendessen, Filmabende und Gartenprojekte füllten die Innenhöfe. Knapp zehn Jahre später geht es nun ruhiger zu.

«Anfangs waren die Leute sehr aktiv», erinnert sich Uschi Ringwald, die seit der Eröffnung des Areals mit Werner Brühwiler hier wohnt. «Jetzt wollen viele einfach ein bisschen Ruhe. Jeder braucht seine eigene Höhle.»

Sie fügt hinzu, dass das Gemeinschaftsgefühl weiterhin bestehe, allerdings in kleineren Kreisen. «Wir helfen uns immer noch gegenseitig, aber hauptsächlich unter Nachbarn, die wir gut kennen.»

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Flugreisen und «ausgelagerter Konsum» treiben die Emissionen hoch

Die Bewohner:innen des Hunziker Areals haben sich zwar über die Zeit von ihren Autos getrennt, doch eine ihrer Emissionsquelle bleibt hartnäckig hoch: der Flugverkehr. Im Jahr 2024 verursachte er allein rund 1,6 Tonnen CO₂ pro Kopf – mehr als das Achtfache aller anderen Verkehrsmittel zusammen.

Und die Schweiz hat noch eine weitere hartnäckig hohe Emissionsquelle, versteckt in allen im Ausland produzierten Produkten wie Kleidung, Elektronik, Baumaterialien und Lebensmitteln. Sobald dieser im Ausland anfallende Energieverbrauch berücksichtigt wird, steigt der CO₂-Fussabdruck jedes einzelnen Einwohners und jeder einzelnen Einwohnerin sprunghaft an, so Energieexperte Evangelos Panos vom Paul Scherrer Institut.

«Die Schweiz könnte innerhalb ihrer Grenzen Klimaneutralität erreichen. Doch sie verlagert nach wie vor einen Grossteil ihres CO₂-Fussabdrucks durch importierte Waren, Brennstoffe und Materialien ins Ausland.»

Diesbezüglich haben die Hunziker-Bewohner:innen jedoch einige kleine, aber bedeutende Anpassungen vorgenommen. Im Nachhaltigkeitsbericht des Areals wird hervorgehoben, dass sie tendenziell weniger konsumieren als der Schweizer Durchschnitt und mit weniger Neuanschaffungen auskommen. Viele entscheiden sich für gebrauchte Möbel, reparieren, was sie können, oder teilen sich Geräte in Gemeinschaftsräumen.

«Stadtteile wie Hunziker oder Kalkbreite in Zürich beweisen, dass energiesparendes, hochwertiges Wohnen schon heute möglich ist», sagt Panos. «Sie senken die täglichen Pro-Kopf-Emissionen aus Heizung, Strom und Mobilität im Vergleich zum Schweizer Durchschnitt um rund 60%.»

Dennoch bleibt die Skalierung schwierig. «In dicht besiedelten städtischen Gebieten ist dies machbar; in ländlichen Regionen erschweren die Abhängigkeit vom Auto und die unübersichtliche Infrastruktur dies», fügt er hinzu.

Panos merkt an: «Wahre Nachhaltigkeit bedeutet nicht nur saubere Energie, sondern auch Kreislaufwirtschaft und die Beschränkung des Konsums auf das Notwendigste. Technologie kann uns ein grosses Stück weiterbringen, aber eine Änderung des Lebensstils ist nach wie vor wichtig.»

Innenansicht eines mehrstöckigen Wohnblocks mit Treppen, Pflanzen und natürlichem Licht
Innenansicht des Wohnblocks. Ein besonderer Aspekt des Gebäudes sind die Fenster, die vom Korridor in jede Wohnung führen. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

Massvoller leben für den Planeten

Im Innenhof vom Hunziker Areal, umgeben von Grünflächen und Veloständern kann man sich gut vorstellen, wie eine klimafreundlichere Zukunft aussehen könnte. Die Gebäude sind schlicht, hell und energieeffizient. Auch hier verändern sich Gewohnheiten, die man sich im Laufe des Lebens angeeignet hat, nur langsam, doch die Struktur des Alltags trägt dazu bei, dass die Menschen massvoller leben.

«Neulich im Tram sagte ein junges Paar, dass es für ein Weihnachtswochenende nach London fliegt», sagt Ringwald, der selbst nicht mehr fliegt. «Da dachte ich, wie normal Fliegen für die meisten von uns immer noch ist. Der Flughafen ist gleich um die Ecke, Flugzeuge landen im Minutentakt. Es ist schwierig, Gewohnheiten zu ändern, die früher so selbstverständlich waren.»

«Wenn man hier lebt, denkt man über all das nach.»

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Editiert von Veronica De Vore/sb; Übertragung aus dem Englischen mit der Hilfe von KI-Tools: Petra Krimphove/me

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