Die Krux mit dem Schweizerdeutschen

Unaufhaltsam rollt die Mundartwelle durch die deutsche Schweiz. Forum Helveticum schlägt jetzt Alarm: Diese Entwicklung bedrohe den nationalen Zusammenhalt.
Die Sprachminderheiten beklagen den Bedeutungsverlust des Schriftdeutschen, Wissenschafter beobachten einen Rückgang der Sprachkompetenzen.
Forum Helveticum, ein Verein zur Förderung des Gesprächs über Fragen des öffentlichen Lebens, hat die Sprachenfrage wieder zum Thema gemacht. Nachdem lange darüber gestritten wurde, ob Englisch oder eine andere Landessprache als erste Fremdsprache unterrichtet werden soll, konzentriert sich die Debatte nun auf die Rolle der Dialekte in der Deutschschweiz.
Schweizerdeutsch ist keine Einheitssprache, sondern ein Sammelsurium vieler Dialekte, die untereinander Ähnlichkeiten aufweisen. Für Schweizerdeutsch gibt es keine präzisen grammatikalischen Regeln. Jeder kann nach Belieben reden und schreiben.
Seit dem Ende der 1960-er Jahre schwappt eine Mundartwelle über die Deutschschweiz hinweg. Der Dialekt stärkt einerseits den nationalen Zusammenhalt in diesem Landesteil. Doch andererseits haben immer mehr junge Schweizerinnen und Schweizer Mühe, sich korrekt auf Hochdeutsch auszudrücken. Die sprachliche Isolation der Deutschschweizer nimmt zu.
Kommunikationsprobleme
Wer nicht in der deutschen Schweiz aufgewachsen ist, hat Mühe mit den Dialekten. Die Mundarten sind extrem schwierig zu erlernen. Mundart wird nicht unterrichtet. Es gibt keinerlei didaktisches Material. Literatur und offizielle Dokumente sind in Hochdeutsch verfasst.
Dies erklärt, warum Vertreter der Sprachminderheiten – vor allem aus der französischen und italienischen Schweiz – häufig frustriert sind. Sie fühlen sich ausgeschlossen, sobald sie sich in der deutschen Schweiz aufhalten.
Der Linguist Beat Siebenhaar, der sich intensiv mit den Dialekten der Deutschschweiz befasst, warnt jedoch davor, das Problem zu übertreiben: «Wer zu uns kommt, muss sich mit der ortsüblichen Sprache arrangieren. Und diese Sprache ist Schweizerdeutsch. Im Regelfall reden die Leute auch die Standardsprache, wenn auch nicht mit der gleichen Leichtigkeit wie den eigenen Dialekt.»
Laut Siebenhaar muss man darum bitten, dass Schriftdeutsch gesprochen wird, und nicht immer erwarten, dass «die anderen» den ersten Schritt machen.
Probleme unter Nachbarn
Während die Minderheiten frustriert sind, sind es die Deutschschweizer leid, immer mit den gleichen Vorwürfen konfrontiert zu werden. Dies erklärt vielleicht, warum die Publikation von Forum Helveticum in der Presse der französischen und italienischen Schweiz breiten Raum fand, während Deutschschweizer Zeitungen dem Thema weniger Platz einräumten.
«Ich bin überzeugt, dass man in der französischen Schweiz unter dieser schwierigen Verständigungs-Situation stärker leidet», sagt die Linguistin Anne-Claude Berthoud, Präsidentin der Schweizer Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Es gehe mehr um ein politisches denn um ein linguistisches Problem. Man wolle keineswegs eine Kampagne gegen den Dialekt reiten, sondern die Bedeutung des Dialekts auf einen angemessenen Rahmen einschränken.
Wenn die Deutschschweizer weniger Mühe mit der deutschen Hochsprache hätten, so die Überlegung der Linguistin, würden sie sich vielleicht im «europäischen Haus» auch etwas mehr zu Hause fühlen. Denn der Kontakt zu den Nachbarn wäre einfacher.
Für Beat Siebenhaar «besteht das Problem nicht so sehr in der Kommunikation zwischen Personen, welche die gleiche Sprache sprechen, sondern vielmehr im Verlust von Sprachkompetenz.»
Auf dem Boden der Realität
Tatsächlich sind die Probleme der Deutschschweizer mit der Hochsprache auch durch die Pisa-Studie ans Licht gekommen. Es hat sich gezeigt, dass viele Schülerinnen und Schüler Probleme beim Begreifen schriftlicher Texte in deutscher Sprache haben.
«Meiner Meinung nach ist der Moment gekommen, um zu intervenieren», meint Anne-Claude Berthoud. Die jungen Deutschschweizer müssten unbedingt gut Schriftdeutsch lernen, um auf Dauer nicht von ihrer eigenen Kultur abgeschnitten zu werden. «Ansonsten droht ein kultureller Leerlauf in der globalisierten Welt», sagt die Linguistin.
Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt hat einmal gesagt: «Schweizerdeutsch ist meine Muttersprache, Deutsch meine Vatersprache.» Nimmt man diesen Ausspruch beim Wort, so droht den Deutschschweizer tatsächlich der Verlust der Sprache eines Elternteils.
swissinfo, Doris Lucini
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
63,7% der Bevölkerung bezeichnet Deutsch als Hauptsprache. (Schweizerdeutsch als gesprochene Sprache/Hochdeutsch als Schriftsprache)
20,4%: Französisch
6,5%: Italienisch
0,5%: Rätoromanisch
9%: andere Sprachen (Volkszählung 2000)
Der Verein Forum Helveticum – präsidiert von Alt-Bundesrat Arnold Koller – hat eine Broschüre zur Mundartwelle in der Deutschschweiz veröffentlicht: «Dialekte in der (Deutschen) Schweiz – Zwischen lokaler Identität und nationalem Zusammenhalt.»
Die Autoren analysieren die mit der Mundartwelle in der Deutschschweiz verbundenen Folgen: Rückgang der Kompetenzen in der Schriftsprache, Probleme in der Arbeitswelt, internationale Isolierung, Schwierigkeiten in der Kommunikation mit den Sprachminderheiten im Land.
Die Publikation ist auf Deutsch und Französisch erschienen.

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