Diese Schweizerin floh vor den Nazis und prägte Brasiliens Fotojournalismus
Die Schweizerin Hildegard Rosenthal, die Ende der 1930er-Jahre aus Europa nach Brasilien floh, wurde zu einer Pionierin des Fotojournalismus in Lateinamerika. Ihre Arbeiten zeigen ein São Paulo im Wandel – und ein Vermächtnis, das bis heute inspiriert.
Das Foto zeigt einen lächelnden Jungen mit Mütze und einfacher Kleidung. In der Hand hält der junge Verkäufer eine Zeitung mit einer Schlagzeile auf Portugiesisch, welche die Angst und Anspannung eines Europas im Krieg widerspiegelt: «Zwanzig deutsche Divisionen an der Schweizer Grenze».
Der Kontrast zwischen der Unschuld des Jungen und der Schwere der Nachricht verdeutlicht das Klima der Unsicherheit in den ersten Tagen nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
Die Neutralität der Schweiz wurde durch die militärischen Bewegungen der Nazis auf eine harte Probe gestellt. Sie sollten Auswirkungen auf die ganze Welt haben.
Das Foto nahm Hildegard Rosenthal 1939 in São Paulo auf, der grössten Metropole Brasiliens. Die gebürtige Schweizerin war zwei Jahre zuvor nach Südamerika ausgewandert, um der Verfolgung durch die Nazis zu entkommen.
Ihre Fotografie hielt den sozialen Wandel Brasiliens jener Zeit fest. Mit ihrem modernen, europäisch geprägten Stil verband die wegweisende Fotojournalistin Kunst mit Journalismus und brachte damit einzigartige und intime Perspektiven in die brasilianische Szene ein.
Heute wird sie als eine der frühsten und einflussreichsten Persönlichkeiten des lateinamerikanischen Fotojournalismus gefeiert.
Mit ihrer Kleinbildkamera dokumentierte Rosenthal die Entwicklungen in São Paulo. Ihre Bilder von Arbeiter:innen, Cafés, Baustellen und Frauen in den Strassen zeigten ein Land, das nach Modernität strebte, aber noch immer unter tiefsitzenden Traumata wie etwa einer grossen sozialen Ungleichheit litt.
Ihre Perspektive war geprägt von der europäischen Bildkultur; mithilfe neuer Technologien führte sie eine neue fotografische Sprache in Brasilien ein.
Rosenthals Werk stellt einen eindrucksvollen Kontrapunkt dar zu den Erzählungen von Exil und Trauma nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Es handelt von Schöpfung und Neuerfindung.
Denn Rosenthals Leben ist symbolisch für die Auswanderung als Form des stillen Widerstands und künstlerischen Beitrags und hat in den 80 Jahren seit dem Ende des Weltkriegs weit über die Schweizer Grenzen hinaus zur Gestaltung des öffentlichen Gedächtnisses des Landes beigetragen.
Brasilien: ein sicherer Hafen
Rosenthal wurde 1913 in Zürich geboren. Als Kind zog sie nach Deutschland, wo erstmals ihr Interesse für die Fotografie geweckt wurde. Später, als sie in den 1930er-Jahren als Au-pair in Frankreich arbeitete, begann sie, neben ihrer Tätigkeit als Kindermädchen und ihres Pädagogikstudiums, zu fotografieren.
Es war die Zeit des Aufstiegs des Nationalsozialismus in Europa. Und dieser gab Anlass zur Sorge: Denn Hildegards Verlobter Walther Rosenthal war jüdischer Herkunft. 1936 verliess er Europa Richtung Brasilien, um der zunehmenden Verfolgung zu entkommen.
Brasilien war die einzige Option für Hildegard. In die Schweiz zurückkehren konnte sie mit ihrem Verlobten nicht – das Land nahm keine jüdischen Flüchtlinge auf.
«Während des Zweiten Weltkriegs war die Schweiz die meiste Zeit von den Achsenmächten umgeben», sagt Michael Schmitz, Forscher am Zentrum für Internationale Geschichte und Politische Globalisierungsstudien der Universität Lausanne.
«In Verbindung mit der Intensität des Konflikts machte dies eine Einwanderung unmöglich. Die Schweiz schloss ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge.»
Während der Krieg drohte, überquerte Rosenthal stattdessen den Ozean, um zu ihrem Verlobten zu gelangen. Doch obwohl Europäer:innen damals die Möglichkeit hatten, nach Lateinamerika zu fliehen, war die Einwanderung laut Schmitz nach Brasilien nicht besonders attraktiv, wegen der Hindernisse, welche die amerikanischen Staaten den Ankommenden auferlegten.
«Die Vereinigten Staaten und Brasilien hatten Einwanderungsquoten. Das Vargas-Regime in Brasilien war eher an ungelernten Landarbeiter:innen als an Industriearbeiter:innen oder Händler:innen interessiert», sagt Schmitz.
Auch die politische Unruhe in Brasilien habe die Attraktivität des Landes für Emigrant:innen wahrscheinlich zusätzlich verringert, sagt er.
Die Herausforderungen endeten nicht mit der Ankunft. Denn das damalige Brasilien war ein Land im Übergang: Im Zug der Industrialisierung zogen Tausende Männer und Frauen vom Land in die Städte.
Die Anpassung an die brasilianische Gesellschaft und ihren von Männern dominierten Arbeitsmarkt war für Hildegard Rosenthal anspruchsvoll.
«Frauen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Beruf der Fotografin einstiegen, standen vor einer doppelten Herausforderung: Sie mussten sich in einem noch jungen Berufsfeld behaupten und gleichzeitig die Barrieren des Patriarchats überwinden», sagt Lúcia Lima von der Universität São Paulo (USP), die sich mit Rosenthals Leben beschäftigt hat.
Obwohl Rosenthal nie öffentlich über die Schwierigkeiten sprach, mit denen sie bei ihrer Ankunft in Brasilien konfrontiert war, hinterlässt ihr Werk Hinweise darauf.
In einer Aussage gegenüber dem Museum für Bild und Ton (MIS, São Paulo) im Jahr 1981 machte sie die Essenz ihrer Fotografie deutlich: «Fotografie ohne Menschen interessiert mich nicht.»
Es ist ein Satz, der mehr verrät als eine ästhetische Vorliebe. Er spiegelt Rosenthals innige Verbindung zum Alltag eines sich wandelnden urbanen Brasiliens wider; einem Land, das sie nicht anhand seiner Monumente, sondern anhand des anonymen Lebens in seinen Strassen darstellen wollte.
Dieser Entscheid erforderte einen Anpassungsprozess, zum einen, weil die Arbeitsbedingungen weit vom europäischen Standard entfernt waren. Zum anderen war es eine Herausforderung, eine neue fotografische Sprache in einem Umfeld zu entwickeln, das noch nicht an Experimente gewöhnt war.
Leica und Stil
Rosenthal brachte eine abgeschlossene Ausbildung in Fotografie aus Deutschland und Frankreich mit, als sie nach Brasilien kam. Zunächst Autodidaktin, hatte sie später in Frankreich Labortechniken studiert und während ihres Aufenthalts in Deutschland Unterricht beim deutschen Fotografen Paul Wolff genommen.
Wolff lehrte seine Schüler:innen, ihren Blick zu schulen und genau auf das Licht zu achten. Für ihn war die Wahl der Perspektive entscheidend für den Erfolg in der Fotografie. Die Leica-Kamera mit ihrer Mobilität sah er als das ideale Werkzeug dafür.
«Als begeisterter Leica-Anhänger war Wolff in der deutschen Szene der 1930er-Jahre sehr einflussreich und half dabei, eine ganze Generation von Fotograf:innen auszubilden», sagt Helouise Costa, Professorin an der USP.
«Er erforschte die Möglichkeiten von Kleinbildkameras, um eine moderne Bildsprache zu entwickeln.»
Diese Kameras waren viel leichter als frühere Modelle, für die Stative erforderlich gewesen seien. Im Gegensatz dazu ermöglichten Leicas eine grössere Flexibilität in der Strassenfotografie.
Sie erleichterten die Aufnahme scharfer, spontaner Bilder mit ungewöhnlichem Blickwinkel und starken Lichtkontrasten.
«Solche Techniken gehörten zum Repertoire der so genannten Neuen Fotografie, die aus den Avantgarde-Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts hervorging», sagt Costa.
Mit einem Empfehlungsschreiben an Lasar Segall, einen einflussreichen litauischen Maler, der in Brasilien lebte, fand Rosenthal zunächst Arbeit in einem Fotostudio, bevor sie anfing, als Fotojournalistin für führende Medien wie Folha de S.Paulo, O Estado de S. Paulo und Zeitschriften wie A Cigarra, Sombra und Rio zu arbeiten.
Die Gesellschaft entziffern
Mit ihrer Kamera hielt Rosenthal den Wandel und die Modernisierung der Grossstadt São Paulo fest, die in den 1930er- und 1940er-Jahren zwar Inspiration in Europa suchte, gleichzeitig aber noch immer unter Machismo und Armut litt.
Der europäische Einfluss zeigte sich etwa in Stadterneuerungsprojekten und in der Architektur des Zentrums. Doch Rosenthals Fotografien offenbaren etwas Tieferes: den ständigen Kreislauf von Zerstörung und Wiederaufbau, der die Stadt prägen sollte.
«Hildegard beschäftigte sich in ihrer Fotografie intensiv mit der städtischen Umgebung, sei es im Rahmen von Presseaufträgen oder bei ihren Erkundungen der modernen Fotografie», sagt Lima.
Ihre Bilder zeigen Boulevards, gesäumt von Gebäuden, sowie das Treiben der Menschenmassen. «Ihre Bilder schaffen Perspektiven, die denen anderer moderner Fotograf:innen wie André Kertész und Germaine Krull in Paris oder Berenice Abbott in New York ähneln», sagt Lima.
Ihre Arbeit dreht sich um die Ästhetik moderner Metropolen und fängt gleichzeitig die Besonderheiten einer Stadt ein, die von Klassen- und Geschlechterungleichheit geprägt war.
Als Frau hatte sie Zugang zu Räumen und Erfahrungen, die ihre männlichen Kollegen selten dokumentierten. Damit bot sie einzigartige Perspektiven auf die Präsenz von Frauen im Stadtbild.
«Mit ihrer Fotografie schaffte Hildegard eine direkte Beziehung zu den Menschen, zur Dokumentation des städtischen Lebens und der Individuen», sagt Sergio Burgi, Kurator und Fotografiekoordinator am Instituto Moreira Salles.
«Aber die Art und Weise, wie sie diesen Ansatz aus verschiedenen Blickwinkeln entwickelte, zeigt deutlich den ästhetischen Einfluss der neuen Ära der Fotografie.» Es sei dieses Markenzeichen der 1920er- und 1930er-Jahre in Europa, das sich in ihren Arbeiten manifestiere.
Ein bleibendes Vermächtnis
Die europäische Perspektive, die Rosenthal nach Lateinamerika brachte, hinterliess ein bahnbrechendes Vermächtnis. Sie starb 1990, aber ihr Einfluss ist im brasilianischen Fotojournalismus nach wie vor spürbar, besonders in der Entwicklung einer unverwechselbaren Bildsprache, die Generationen inspirierte.
«Ihre Arbeit sticht in dieser Zeit gerade durch ihre Ästhetik hervor», sagt Burgi. Sie sei zwar in zeitgenössischen Debatten verwurzelt, gehe aber weit über eine formale Übung in der Bildsprache hinaus. Die Tiefe in ihrem Werk stehe im Dialog mit der Zeit, in der es entstanden sei.
Die Vision, die sie von der Stadt schaffte, offenbare etwas Tiefgründiges über São Paulo, so Burgi. «Es wird oft gesagt, dass Brasilien nichts für Amateure ist – und São Paulo erst recht nicht. Es ist ein komplexer Ort, der sich in ständigem Wandel befindet. Hildegard war Teil des Prozesses, sich einer Stadt inmitten einer intensiven Metamorphose anzunähern und sie zu interpretieren.»
Für Lima verbinden Rosenthals Fotografien die moderne Sprache der Fotografie mit Darstellungsformen und Themen, die von ihren männlichen Zeitgenossen übersehen wurden.
«Die Vorstellungen von Modernität sind nicht universell, wie oft angenommen wird», so Lima. Rosenthals Fotografien zeigten die Vielfalt der Erfahrungen, Räume und Beziehungen, welche die moderne Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt hätten.
«Ihr Vermächtnis ist Teil des bedeutenden Beitrags von Einwanderer:innen zur fotografischen Produktion und zur lateinamerikanischen Bildkultur. Ihre Arbeit gibt Einblicke in die Erfahrungen von Frauen in der Moderne und erweitert unser Verständnis der modernen Fotografie um neue Facetten.»
Editiert von Virginie Mangin und Eduardo Simantob/gw, Übertragung aus dem Englischen: Meret Michel
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