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“Ich wollte alles hinter mir lassen”

Ab Montag geht für Lisa die Schule wieder los. swissinfo.ch

Lisa Christen (17) hat nach turbulenten Wochen wieder Tritt gefasst. Die Schweizerin blickt zurück auf die Vorfälle in Portland - und auf ihre Gefühle.

Durch Lisas Tagebuch bei swissinfo aufmerksam geworden, sicherte die Schweizer Botschaft in Australien Lisas Mutter ihre Unterstützung zu. (Teil 10)

Die letzten Tage in Portland waren für mich ziemlich schlimm. Wenn ich darüber nachdenke, kann ich mich wieder in jede Einzelheit hinein fühlen. Dies macht mich dann traurig und wütend zugleich, so dass ich all das, was mir in Portland widerfahren ist, am liebsten vergessen möchte.

Abgeschirmt und ausgegrenzt


Ich fühlte mich von meiner Gastfamilie Coleman total unverstanden und schlecht behandelt. Von einem Tag auf den anderen wurde mir alles verboten. Die Gastfamilie steckte plötzlich die Telefone um, so dass ich in der Küche telefonieren musste und mir jeder zuhören konnte. Sie kappten das Internet, und mit meinem Handy hatte ich im abgelegenen Portland sowieso keinen Empfang. Ich war total abgeschirmt.

Ich erinnere mich gut, dass meine gleichaltrige Gastschwester Jessica und ich zu einer Party eingeladen waren. Als ich sie an diesem Tag fragte, ob wir nun zu dieser Party gingen, sagte sie: “Ich gehe nur mit Freunden in Portland etwas essen.“

Im 2000-Seelen-Dorf Portland essen gehen? Da konnte ja was nicht stimmen! Dabei hatte Jessica zuvor immer wieder betont, dass die Teilnahme an dieser Party wichtig sei, um ihre Freundin nicht zu enttäuschen. Das einzige Problem sah sie darin, dass Tony uns wahrscheinlich nicht fahren würde, da er lieber Fernsehen schaue.

Plötzlich waren Jessica und ihr Stiefvater Tony nicht mehr da. Ohne “bye” zu sagen verschwanden sie. Ich wusste gleich, dass Tony sie zur Party fuhr. Mich liessen sie zu Hause, obwohl sie wussten, dass auch ich eine Einladung zu dieser Party erhalten hatte. Ich fühlte mich total verarscht. Und dies nicht zum ersten und letzten Mal.

Lügen, Verbote und Eifersucht

Es gab mehrere ähnliche Situationen. Ich denke, dass da möglicherweise auch ein wenig Eifersucht mitspielte. Ich hasse nichts mehr, als wenn man mich belügt. Gefühle von Nicht-erwünscht-sein und Unfairness kamen in mir hoch. Vor allem aber war ich verblüfft, dass Tony mitspielte.

Mir wurde verboten, irgendwo hin zu gehen: Ich durfte nicht mehr bei einer Schulkollegin übernachten. Es war mir nicht mehr erlaubt, mit Kolleginnen im Auto mitzufahren oder überhaupt mit ihnen weg zu gehen. Sogar die Gesangstunden sollten eventuell gestrichen werden, da sich diese ausserhalb der Lithgow High School befinden.

Die Ausnahme bildeten Schul- und Kirchenausflüge sowie Ausflüge mit der Gastfamilie. Doch die sassen am Wochenende ohnehin immer zu Hause und sahen fern. Zu Beginn meines Austauschjahres hatten wir noch einige Dinge unternommen. Als nichts mehr lief, fing ich an, etwas auf eigene Faust zu unternehmen.

Nur noch ein Anhängsel der Familie


Ich kann einfach nicht verstehen, warum meine Gastfamilie mich von einem auf den andern Tag so einschränkte. Die Ursache für diesen Sinneswandel liege bei der lokalen Koordinatorin der Austauschorganisation Southern Cross Culture Exchange (SCCE), sagten sie. Zudem betonten sie, dass ich nicht in Australien sei, um nur Spass zu haben.

Ich bin es einfach nicht gewohnt, nach der Schule den ganzen Abend in die Glotze zu schauen und das ganze Wochenende zu Hause rum zu sitzen. Sport konnte ich auch nicht treiben, weil mich die Gasteltern aufgrund der wenigen Busse in Portland hätten hinfahren müssen. Doch dazu waren sie nicht bereit.

Jogging funktionierte auch nicht, da es einfach zu kalt war auf über 1000 Meter im australischen Winter. Was hätte ich denn dort noch tun sollen, nachdem ich keine grösseren Schritte aus dem Haus machen durfte? Meine Mutter bezahlt doch nicht so viel Geld für ein Austauschjahr, damit ich in einem “Kaff” eingesperrt bin…

Ich fühlte mich überhaupt nicht mehr – wenn überhaupt jemals – als Teil dieser Familie, sondern bloss als ein Anhängsel.

Hilfe-SMS in die Schweiz

Ich realisierte zunehmend, dass ich in diesen fast zwei Monaten an der Lithgow High School nichts gelernt hatte. Ich wollte nur noch weg von der einsamen Gegend. Da meine Gasteltern die Austauschorganisation für ihren Sinneswandel beschuldigten, wagte ich nicht, mich an SCCE zu wenden. Also bat ich meine Mutter, mich da rauszuholen. Auch einer Schweizerin, die in Perth wohnt, erzählte ich meinen Kummer. Sie erklärte sich sofort bereit, mich notfalls in Perth aufzunehmen.

Bei einem von SCCE organisierten Barbecue nahm ich schliesslich die Gelegenheit wahr, mit der lokalen Koordinatorin von SCCE zu sprechen. Diese stellte ebenfalls fest, dass ich bei meiner Gastfamilie wirklich eingesperrt sei und meinte, ich könne an den Wochenenden auch zu ihr kommen.

Zwei Tage später holte sie mich aus der Gastfamilie, nachdem meine Mutter schriftlich bei der Schweizer Vertragspartnerin Aspect interveniert hatte. Ich wohnte einige Tage bei ihr. Sie war nett und ich fühlte mich dort deutlich wohler. Ich wollte in Australien bleiben, aber keinesfalls weiterhin in dieser Umgebung mein Austauschjahr beenden. Ich wollte nur noch weg von dort und alles hinter mir lassen.

Ich schrieb Dutzende SMS an meine Mutter, die schliesslich schriftlich auf einem Urlaub bestand, damit ich mich von den psychischen Strapazen erholen konnte. Die Organisation erhielt damit genügend Zeit, um mir eine neue Schule und eine neue Familie zu suchen. Die Schweizerin in Perth buchte mir den Flug in ihre Stadt. Ich war total erleichtert, als ich endlich im Flugzeug sass.

Entscheid für Australien, Rückkehr nach Sydney


Nina empfing mich am Flughafen und ich fühlte mich sofort sehr wohl und glücklich bei ihr. Sie ist eine exzellente Köchin und eine sehr interessante Frau.

Ich wäre am liebsten bei ihr geblieben, doch schon nach zwei Tagen meldete sich SCCE, sie habe für mich eine neue Schule und eine provisorische Unterkunft in der Nähe von Sydney gefunden. SCCE verlangte von mir, dass ich innert 24 Stunden nach Sydney zurückkehren müsse, da Perth nicht zu ihrem Aufsichtsbereich gehöre.

Ich war nicht sofort bereit, mich wieder in etwas Neues zu stürzen. Wieso ein Risiko eingehen, wenn ich es in Perth so gut hatte? Doch die Organisation drohte mit Visumentzug und verlangte die unverzügliche Rückkehr.

Ich wiederum wollte endlich etwas lernen in Australien und musste eine Entscheidung treffen: Nach langem Hin und Her entschloss ich mich, dieses Angebot anzunehmen. Schweren Herzens nahm ich nach fünf Tagen Abschied von Nina und kehrte nach Sydney zurück.

Viva Italia! Mein neuer Start


Ich sass mit gemischten Gefühlen im Flugzeug. Mir war gar nicht richtig bewusst, was passierte. Ich wusste nur, dass mich dort eine neue Familie erwarten würde. Aber ich konnte mich nicht richtig darauf freuen.

Ich erkannte meine neue Gastmutter sofort an einer Mappe mit dem SCCE-Zeichen. Lisa Messina ist eine richtige italienische Mamma. Sie erwartete mich mit ihrer jüngsten Tochter Mary. Beide wirkten aufgestellt und nett. Wir gingen zuerst ins Elektrogeschäft meines neuen Gastvaters, Ross Messina, ein richtiger Sizilianer. Auch er war mir sofort sympathisch.

Dann fuhren wir zu ihrem Haus nach Mt. Kuring Gai, einem schönen Haus mit Swimmingpool. Die Tapete meines Zimmers ist rosa. Und schon am zweiten Tag kauften sie mir ein pink-farbenes Gestell… Na ja, lieb von ihnen, aber nicht wirklich mein Geschmack.

Meine neuen Gasteltern waren zwar noch nie in Italien, aber ihr Haus ist total italienisch eingerichtet. Ich habe ihnen natürlich vom südlichen Nachbarland der Schweiz vorgeschwärmt.

Meine ältere Gastschwester heisst Katerina (19). Sie besucht das College und studiert Design. Sie ist ruhig und sehr freundlich. Mein Gastbruder Jon Carlo (17) hat sich kürzlich ein Occasionsauto gekauft und spielt jetzt bei mir den grossen Gentleman. Meine jüngste Gastschwester Mary ist 12 Jahre alt und kichert den ganzen Tag. Ob ich in diesem Alter auch so war? Wir werden zusammen die Turramurra High School besuchen.

Vor allem meine neuen Gasteltern Lisa und Ross Messina mag ich sehr. Ob ich allerdings wirklich bei ihnen bleiben kann, ist noch unbestimmt.

Nun bin ich schon bald zwei Wochen zurück aus Perth und kann immer noch nicht zur Schule gehen. Erst am kommenden Montag, 22. September gehts für mich in der neuen High School in Turramurra los. Dann gibts eine Woche lang Schule und anschliessend bis Mitte Oktober wieder zwei Wochen Ferien.

Warum um Gottes Willen musste ich nur so schnell wieder von Perth nach Sydney zurückfliegen?

swissinfo, Lisa Christen
(bearbeitet von Thomas Vaszary)

Lisa-Deborah Christen (17) lebt zusammen mit ihrer Mutter Elsbeth (53) und den Brüdern Albrecht (23) und Basil (20) in Hergiswil im Kanton Nidwalden. Vater Hans starb im Jahr 2000.
Lisa geht am Kollegium St. Fidelis in Stans NW zur Schule.
Anfang August beginnt Lisa ihr Austauschjahr bei der Familie Coleman in Portland, Australien.
Unerwartet kommt es nach wenigen Wochen zum Eklat: Lisa verlässt die Familie Coleman und zieht nach Perth zu einer Auslandschweizerin, die sie über swissinfo kennen gelernt hat.
Seit dem 9. September lebt Lisa bei der Familie Messina in Mount Kuring Gai. Die drei Kinder heissen Katerina (19), Carlo (17) und Mary (12). Zusammen mit Mary wird Lisa in die Turramurra High School gehen.

Die 17-jährige Lisa Christen aus Hergiswil NW geht für ein Jahr lang als Austausch-Schülerin nach Australien.

Zuerst lebte sie inn Portland, New South Wales, 250 Kilometer von Sidney entfernt.

Sie verliess jedoch mit dem Einverständnis ihrer Mutter die Gastfamilie. Nach einem “Erholungsurlaub” ist sie nun in der Nähe von Sidney, bei der Familie Messina in Mount Kuring Gai.

In ihrem Online-Tagebuch auf swissinfo.ch erzählte Lisa jeweils samstags von ihren Erwartungen, Erfahrungen und Begegnungen mit den Menschen im Land ihrer Träume.

Wer mit Lisa Kontakt aufnehmen möchte, erreicht sie unter lisachristen86@gmx.ch.

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