Keine Angst vor Bestsellern
Gut ein Jahr vor Betriebsbeginn hat das Schweizerische Literaturinstitut, die erste Dichter-Schule im Land, 35 Studierende zu einem Probelauf eingeladen.
Marie Caffari, Koprojektleiterin des Instituts in Biel, zieht im Gespräch mit swissinfo eine erste Bilanz und rechnet mit überholter Genieästhetik ab.
swissinfo: Warum haben Sie für den geplanten zweisprachigen Studiengang einen zweitägigen Pilotkurs durchgeführt?
Marie Caffari: Wir wollten Erfahrungen von literarischem Schreiben und Übersetzen sammeln und unser Konzept für das Bachelor-Studium in der Praxis testen.
Zudem ging es uns darum, mehr über unsere Zielgruppe zu erfahren, beispielsweise wie alt die Leute sind, die sich für den Bildungsgang interessieren, woher sie kommen und was für Schreibprojekte sie haben.
swissinfo: Wie waren die Reaktionen auf den Pilotkurs?
M.C.: Die Evaluation läuft noch. Die ersten Reaktionen waren aber positiv. Insbesondere für die so genannten Kontaktstunden, in denen die Studierenden ihre Texte der Gruppe präsentierten und sich unter der Leitung eines etablierten Schreibenden austauschten, haben wir viele positive Reaktionen erhalten. Sie wurden als wertvoll empfunden.
Viele angehende Autorinnen hatten ihre Arbeiten ausser dem engsten Freundeskreis bisher niemandem zu lesen gegeben. Das Interesse an diesem Kurs war gross und das hat mich sehr gefreut.
Die zwei Tage reichten, um eine Gruppendynamik zu entwickeln. Die Studierenden hätten gerne weitergemacht. Es wollten auch alle an der öffentlichen Präsentation vom 22. Oktober teilnehmen und ihre Texte vorlesen. Es war schwierig, eine Auswahl zu treffen. All dies zeigt uns, wie gross das Bedürfnis nach einer solchen Ausbildung ist.
swissinfo: Was ist lernbar am literarischen Schreiben?
M.C.: Die Ausdauer – oft wird es auch Absicht, Talent oder Leidenschaft genannt – ist eine Voraussetzung für die Aufnahme in den Studiengang. Das können wir nicht vermitteln.
Es gibt aber Handwerkliches am literarischen Schreiben, das gelernt und geübt werden kann. Beispielsweise für eine Kinderstimme in einem Dialog den angemessenen literarischen Ton zu finden. Indem man die Passage laut vorliest und sie mit den anderen Leuten bespricht.
Rezepte – das betone ich – können wir keine liefern. Ich kann heute nicht beurteilen, was gute Literatur von morgen ist. Wir fordern eine Qualität, die sich an der Kohärenz der Projekte misst.
Die Studierenden müssen zu Beginn eines Projekts ihre Absicht klar formulieren. Am Ende des Semesters wird beurteilt, ob und wie sie die Aufgabe erfüllt haben.
swissinfo: In der Schweiz können selbst arrivierte Autoren kaum vom Schreiben leben. Ist es sinnvoll, jedes Jahr 15 bis 20 Studierende im literarischen Schreiben auszubilden?
M.C.: Wir wollen nicht zusätzliche Autorinnen ausbilden, sondern jenen, die sich bereits schon künstlerisch mit dem Schreiben auseinandersetzen, einen beruflichen Rahmen geben. Wir glauben nicht, dass der Bildungsgang einen Dichter-Boom auslösen wird.
Aus dem Studium werden einige etabliere Autoren hervorgehen. Manche werden in der Buchbranche tätig sein, einige im Bereich Kultur- und Literaturvermittlung. Andere Absolventinnen schreiben vielleicht irgendwann einen Bestseller.
swissinfo: Dann gibt es künftig mehr Bestseller aus der Schweiz?
M.C.: Ich würde mich freuen, wenn jemand von unseren Studienabgängern einen Bestseller landen könnte. Die Meinung, Erfolg und literarische Qualität liessen sich nicht vereinbaren, ist hier – im Gegensatz zum englischen Sprachraum – noch weit verbreitet. Da müssen wir ein wenig offener werden.
swissinfo: Das Literaturinstitut versteht sich als Zentrum der Schweizer Literatur. Vorerst werden die Studiengänge aber nur in zwei Sprachen angeboten. Wann folgen Italienisch, Rätoromanisch und Mundart?
M.C.: Mundart-Projekte sind in den deutschsprachigen Kursen nicht ausgeschlossen. Wenn jemand in Mundart schreiben will, wird er nicht daran gehindert.
Der Studiengang ist zweisprachig, weil er ein kantonales Projekt der Berner Fachhochschule ist und im Kanton Bern deutsch und französisch gesprochen wird. Deshalb nennen wir es auch schweizerisches, und nicht Schweizer Literaturinstitut.
Italienische und rätoromanische Kurse müssten die Kantone Tessin und Graubünden finanzieren. Vorläufig haben wir für jene Sprachgruppen Weiterbildungen geplant.
swissinfo: In der Romandie findet das Projekt, das sich immerhin auch an französisch sprechende Autorinnen richtet, kaum Aufmerksamkeit. Warum?
M.C.: Im französischen Sprachraum gibt es keine ähnliche Institution. Zudem ist dort die Idee von einem Unterricht, in dem Meister dozieren und Schüler vorwiegend zuhören, noch sehr präsent.
Wir müssen in der Romandie also zuerst eine Basis schaffen, indem wir Grundlegendes an unserem Konzept erklären – und das dauert länger.
swissinfo: Was tun Sie nach der Eröffnung des Instituts?
M.C.: Daniel Rothenbühler und ich leiten das Projekt seit April 2005. Wir sind von der Gebert Rüf Stiftung angestellt. Unser Vertrag läuft bis Ende nächstes Jahr. Wer das künftige Institut leitet, ist noch offen.
swissinfo-Interview: Nicole Aeby, Biel
Die Ergebnisse des Pilotkurses werden am 22. Oktober in Biel öffentlich präsentiert.
Den regulären Betrieb nimmt das Schweizerische Literaturinstitut voraussichtlich am 23. Oktober 2006 auf.
Bis dahin leiten Marie Caffari und Daniel Rothenbühler das Projekt.
Marie Caffari, 1968 in Lausanne geboren und aufgewachsen, studierte an den Universitäten Sankt Petersburg, Köln und Lausanne französische, deutsche und russische Literatur.
2003 promovierte sie mit einer Arbeit über die Interaktion von französischer Gegenwartsliteratur und visuellen Künsten.
Daniel Rothenbühler, 1951 in Frutigen geboren und in Biel aufgewachsen, studierte an den Universitäten von Heidelberg und Bern Germanistik und Romanistik.
1991/92 promovierte er mit einer Arbeit über Gottfried Kellers Bildungsroman «Der grüne Heinrich».
Seit April 2005 leiten sie das Projekt «Schweizerisches Literaturinstitut».
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