Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Schulbank drücken in der vielsprachigen Schweiz

Sprachbarrieren abgebaut und Freundschaften geschlossen: Schülerinnen aus Freiburg und Kilchberg im Klassenzimmer im Kanton Zürich. Dominic Büttner/Lunax

Die Debatte über die Frage, welche Fremdsprache an Schweizer Schulen zuerst gelernt werden soll, sorgt im Land für rote Köpfe. Zwar ist die Zahl der Schüler gestiegen, die Sprachaustausche in anderen Landesteilen absolvieren. Aber die Regierung sieht ihre Erwartungen nicht erfüllt. Zuviel hängt noch von der Eigeninitiative der Lehrerinnen und Lehrer ab. Wie jener von Rachel Dällenbach aus Fribourg und Marina Studach aus Kilchberg.

Sie sind zwischen 11 und 12 Jahre alt und zwischen ihnen Wohnorten liegen mindestens 200 Kilometer. Aber in der Schweiz genügt diese Distanz, um zwei völlig verschiedene Sprachkulturen zu verbinden.

Die Schülerinnen und Schüler von Rachel Dällenbach, Lehrerin an einer französischsprachigen Schule im Kanton Freiburg, und von Marina Studach aus dem Deutschschweizer Kanton Zürich, haben sich soeben zum ersten Mal «richtig» getroffen. Und das in Kilchberg am Ufer des Zürichsees. Zuvor hatten sie sich auf Initiative ihrer beiden Lehrerinnen schon via Briefkontakt kennengelernt.

Nationaler Zusammenhalt

Die Frage des Fremdsprachen-Unterrichts an den Schulen in der Schweiz ist seit mehreren Jahren ein Politikum. Auslöser waren mehrere Kantone in der Deutschschweiz, die im Primarschul-Unterricht Französisch als erste Fremdsprache durch Englisch ersetzen wollten.

In den Augen der Westschweizer Kantone gefährden sie damit den nationalen Zusammenhalt des Landes. Jüngster Kanton, der darüber entschied, war Nidwalden. Im März 2015 votierten die Stimmbürger für die Beibehaltung von Französisch als erster Fremdsprache in der Primarschule. Die Initiative der rechtskonservativen SVP fand somit keine Mehrheit. 

Nach einem Nachmittag mit Fussballspielen und Grillieren und der ersten Übernachtung im Hause der Gastfamilien sitzen alle nun vereint im Klassenzimmer. Jetzt beginnt der Ernst.

Grosse Gesten oder Wörterbuch!

Die beiden Lehrerinnen sprechen abwechslungsweise in Deutsch oder Französisch zu den Schülern. Ihr Programm ist ambitiös: Die Kinder müssen eine Theaterszene auswählen, die sie in der Sprache der anderen spielen: Strassenmusiker, die schlecht spielen und von einem Passanten zusammengestaucht werden; ein krankes Kind, das zuhause bleiben muss; im Schuhgeschäft; Passanten auf der Strasse um eine Auskunft bitten: Die Schüler haben die Qual der Wahl.

Einige bringen kaum ein französisches Wort über die Lippen. «Die Vorbereitung der Dialoge erweist sich als schwieriger als gedacht, es fehlt ihnen am Basisvokabular», sagt Marina Studach.

Die Zürcher lernen erst seit Sommer 2014 Französisch, während die Freiburger Schüler schon im dritten Jahr ihres Deutschunterrichts stehen.

Mit Rollenspielen «wachsen» die Austauschschüler in die andere Landessprache hinein. Dominic Bttner/Lunax

Die kleine Übung bereitet aber allen Schwierigkeiten. Einige suchen Hilfe beim Wörterbuch. Andere gestikulieren wild mit den Händen und bemühen ein Brachial-Französisch – «nous jouer musique!» Einige Schülerinnen machen sich immerhin die Mühe, die Dialoge aufzuschreiben, wenn auch phonetisch.

«Der Hund ist kaputt!»

Das Resultat ist doch erstaunlich, auch wenn zwischendurch ein Wort in der Muttersprache aushelfen muss, etwa ein «was?» oder «oui». Einige sind schon ein Stück weiter. Alessandro aus Kilchberg sucht seinen Hund. «Avez-vous vu mon chien?», fragt er verzweifelt. Der Freiburger Damien anwortet: «Quoi? Ja, da. Er ist kaputt». Die Klasse bricht in Lachen aus. Der Hund, dargestellt von einem Pullover, regt sich tatsächlich nicht mehr.

Nach einer gemeinsamen Pizza am Mittag heisst es aber schon wieder Abschied nehmen – die beiden Klassen trennen sich unter lautem Lachen.

Für die beiden Lehrerinnen ist der Sprachenaustausch gelungen. «Alle haben bei den Rollenspielen mitgemacht, obwohl einige gegen ihre Schüchternheit kämpften», sagt Rachel Dällenbach. «Einer meiner Schüler sass während des ganzen Abschiedsessens allein am Tisch der Deutschschweizer. Und im Zug schwärmten mir meine Mädchen vor, dass die Kolleginnen aus Kilchberg wirklich ‹zu cool› seien.»

Gleich tönt es bei Studach. «Einige meiner Schüler schreiben schon Mails nach Freiburg. Aber die Aussprache ist eine Barriere. Es braucht viel Mut, Französisch zu sprechen!»

Der Austausch zeige auf praktische, nicht theoretische Art und Weise, wie das Kennen und Sprechen einer anderen Sprache Spass bereiten kann. «Sprachen lernen sich mit Kontakten, mit dem Herzen!», so Studach.

Mission Sprachaustausch erfüllt: «Alle Schüler haben mitgemacht, trotz teilweiser Schüchternheit und Unsicherheit», bilanziert Lehrerin Rachel Dällenbach. Dominic Bttner/Lunax

Intensive Vorbereitung

Für die Lehrkräfte ist die Vorbereitung eines Sprachaustauschs sehr aufwändig und bisweilen auch tückisch. Jedenfalls ist grosses persönliches Engagement nötig.

Seit 2012 stellt der Bund pro Jahr gut 1 Million Franken dafür zur Verfügung. Genauer: Dies tut die «ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit», welche die Anstrengungen der Kantone koordiniert und diese so zu mehr Sprachenaustausch motiviert. Aber die Fortschritte sind bescheiden, worüber wiederum die Regierung nicht glücklich ist.

Kommende Veränderungen

«Als die erste Finanztranche beschlossen wurde, war die Stiftung ‹ch› die einzige Organisation, die zur Auswahl stand», erinnert sich David Vitali vom Bundesamt für Kultur (BAK). «Aber die Distanz zwischen der Stiftung und den Kantonen, die mit der Durchführung der Austausch-Programme beauftragt sind, ist zu gross.» Das BAK ist deshalb daran, andere Strukturen ins Auge zu fassen.

Vitali will dazu Involvierte und Organisationen ansprechen. «Die Entscheidung verlangt eine Absprache mit anderen Instanzen und Organisationen, die in der Förderung von Sprachaustausch und Mobilität aktiv sind», so Vitali. Wie diese neue Struktur aussehen wird, wollen sie Ende Jahr bekannt geben.

Das Schweizer Parlament hat eine Botschaft zur Förderung der Kultur verabschiedet, die auch die Unterstützung von Schüleraustausch-Programmen umfasst. Dies bedeutet, dass der bisherige Förderbeitrag von 450’000 auf 1,05 Mio. Franken erhöht wurde.

Externer Inhalt

Bildungsminister Alain Berset seinerseits kündigte an, dass der Bundesrat die Ausdehnung der Schüleraustausch-Programme in den Bereich der Berufslehren wünsche.

Demgegenüber bleibt die Stiftung «ch» diskret. «Die Dynamik ist entfacht, aber sie kann nicht nur von uns ausgehen», sagt Silvia Mitteregger. Letztes Jahr hat die Stiftung die Programm-Plattform «SchulreisePLUS für Gross und Klein» lanciert. Diese soll künftig genau solche Austausch-Initiativen unterstützen, wie sie die Lehrerinnen Marina Studach und Rachel Dällenbach ergriffen hatten.

Auf der Plattform finden sich auch Adressen von Schulklassen, die an einem kurzfristigen Austausch interessiert sind. Der kann auch nur einen einzigen Tag dauern. Die Schweizerischen Bundesbahnen SBB ihrerseits gewähren teilnehmenden Klassen einen kleinen Rabatt auf den Billettpreisen.

Mehr Motivation gefragt

Wie sieht es aber punkto Nutzen von solchen Programmen aus? Für die Forscherin Sybille HeinzmannExterner Link, die an den Pädagogischen Hochschulen Luzern und Freiburg eine Studie über den Austausch an Gymnasien verfasste, steht fest: «Die Jungen sind danach motivierter, insbesondere, was die Landessprachen angeht.»

Ideale Mindestdauer wären drei Wochen, so Heinzmann, aber auch drei kurze Aufenthalte könnten Nutzen bringen. «Selbst ein Tagesausflug ermöglicht die Öffnung gegenüber anderen Kulturen und die Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen.»

Steigende Tendenz

+ 7,8%: Der Anstieg von Schülern, die in den Schuljahren 2012/13 und 2013/14 an einem Sprachaustausch teilnahmen. Die Gesamtzahl betrug 16’128 Schüler. Dies zeigt die Statistik der Stiftung «ch».

+ 11,5%: Der Anstieg betreffend teilnehmender Schulklassen.

– 15%: Demgegenüber gingen die individuellen Austausche stark zurück. Diese machen aber nur knapp 15% des gesamten Programms aus.

+ 80%: Seit dem Schuljahr 2010/11 nahm die Zunahme der an einem Sprachaustausch beteiligten Schüler markant zu.

8%: Das Ziel der Schweizer Regierung von 30’000 Schülern bis Ende 2016 wird jedoch weit verfehlt. Gemessen am Total aller Schüler des Landes nehmen weniger als 10% die Chance eines Sprachaustausches wahr.

Hitparade der Kantone: Führend punkto Sprachaustausch sind das Wallis und Freiburg, gefolgt von Waadt, Bern und Zürich. Appenzell-Innerrhoden und Uri bieten gar keinen solchen an, während Glarus immerhin Gelegenheiten dazu auf Sekundarschulstufe gibt.

Europa. Der innereuropäische Sprachaustausch hat ebenfalls zugelegt, im Schuljahr 2013/14 um 25% (Anzahl Schulklassen) resp. 10%, was die Schülerzahl betrifft.

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