
Schweizer Regisseur Simon Edelstein erhält späte Ehre in Locarno

Das letzte Mal, dass ein Film von Simon Edelstein am Filmfestival von Locarno gezeigt wurde, ist über 50 Jahre her. Dieses Jahr würdigte eine Retrospektive den einflussreichen Schweizer Regisseur mit der Vorführung zweier neu restaurierter Fassungen seiner Filme.
Die Geschichte ist mit Simon Edelstein nicht besonders fair umgegangen. Der Regisseur und Drehbuchautor aus Genf ist heute eher für seine Fotobücher bekannt, in denen er die Schönheit verfallener Kinos weltweit festhält. Dieses Unrecht wurde jedoch im Sommer 2025 auf eindrucksvolle Weise korrigiert.
Bei der 78. Ausgabe des Filmfestivals von Locarno wurden zwei Filme von Edelstein gezeigt – «Les Vilaines Manières» (Schlechte Manieren) und «L’Ogre» (Der Oger). Die beiden Spielfilme sind kürzlich von der Cinémathèque Suisse, dem Schweizer Filmarchiv, mit Unterstützung des französischsprachigen öffentlich-rechtlichen Senders RTS restauriert worden.
Die Vorführungen in Locarno fanden im Rahmen einer Sektion statt, die sich der Wiederentdeckung des Schweizer Films widmet («Cinéma Suisse Redécouvert»).
Retrospektiven sind oft die einzige Möglichkeit, Zugang zu Filmen zu erhalten, die im Lauf der Zeit in Vergessenheit geraten sind. Sie werfen ein Licht auf die Kontexte und Umstände, die diese Werke einst hervorgebracht haben.
Ein Autodidakt
Edelstein, 83, war ein produktiver Dokumentarfilmer, der über 100 Filme hauptsächlich für RTS drehte, das Teil der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft und somit der Muttergesellschaft von Swissinfo ist.
Er arbeitete ausserdem als Kameramann für Michel Soutter und war Mitglied des Kollektivs «Groupe 5»Externer Link, bevor er Ende der 1960er- und 1970er-Jahre, am Ende der Schweizer Nouvelle Vague, begann, eigene Filme zu drehen.

Damals habe es in der Schweiz keine Filmschule gegeben, sagt Edelstein gegenüber Swissinfo. «Es war ein Beruf, den man beim Fernsehen direkt am Arbeitsplatz erlernte.»
Als Soutter erfuhr, dass Edelstein Filmemacher werden wollte, brachte er ihn mit französischen Produzenten in Kontakt, die sich damals besonders für das Schweizer Filmschaffen interessierten – und vor allem daran, die Projekte junger Regisseure zu finanzieren.
Der erste seiner beiden Filme, die dieses Jahr in Locarno gezeigt wurden, war «Les Vilaines Manières» (1973), in dem es um Jean-Pierre geht, gespielt von Jean-Luc Bideau. Der Schweizer Schauspieler war in Hochform als Gastgeber einer beliebten Radiosendung, in der er einsame Frauen interviewte, die Schwierigkeiten hatten, einen Partner zu finden. Aus seinem Aufnahmestudio heraus zog er ihre Aufmerksamkeit auf sich und spendete Trost.
«Damals gab es in Frankreich eine Sendung mit genau demselben Thema», erinnert sich Edelstein. «Ich hatte darüber einen Dokumentarfilm gemacht und war sehr beeindruckt von der künstlichen Empathie, welche die Journalisten diesen Menschen entgegenbrachten, die ein kleines, unbeachtetes Leben führten. Und plötzlich war da jemand, der Interesse an ihnen zeigte und ihnen viele Fragen stellte.»
Heute könnte die fiktive Figur Jean-Pierre leicht ein Teil der Podcast-Welt sein.

Ein Donald-Sutherland-Cameo
In dem Film bringt Jeanne, eine rätselhafte Figur, gespielt von Francine Racette, das geordnete und monotone Leben von Jean-Pierre plötzlich durcheinander. Er begegnet ihr in einem Lift und wird in ihre Gesetzesbrüche hineingezogen – vom Diebstahl auf See bis hin zum Einbruch.
Der Film zeichnet sich durch einen lockeren, suggestiven Erzählstil aus, unterstützt von der körnigen Schwarz-Weiss-Fotografie von Renato Berta, mit Genf als Schauplatz für die beiden Liebenden, die endlos durch die Stadt streifen.
Er erinnert auch an ein Meisterwerk des französischen Regisseurs Eric Rohmer, «Love in the Afternoon» (1972), mit seiner pragmatischen Erforschung von Beziehungen, Verbindungen – oder deren Abwesenheit. Ein Thema, das niemals alt wird.

Doch vielleicht die auffälligste Kuriosität in diesem Film ist der abrupte, kaum wahrnehmbare Auftritt des zwischenzeitlich verstorbenen kanadischen Filmstars Donald Sutherland.
«Donald Sutherland war sehr verliebt in die Hauptdarstellerin Francine Racette, und er wich ihr während der gesamten Dreharbeiten nicht von der Seite», erzählt Edelsteins Ehefrau Elisabeth.
«Er hatte nichts zu tun, und da er ein grosser Star war, sagte Simon, das sei eine Gelegenheit, etwas mit ihm anzufangen.»
Edelstein konnte jedoch nicht spontan eine Rolle für Sutherland erschaffen, also bat er ihn, als Passant an der Kamera vorbeizugehen und dabei etwas aufzuheben.
Ein sich verdunkelnder Rahmen
«L’Ogre» (1986) hingegen war ein völlig anderes Unterfangen und entstand mehr als zehn Jahre nach «Les Vilaines Manières». Edelsteins Unschuld war längst verflogen; das Thema war weitaus düsterer, durchzogen von rabenschwarzem Humor.
Die Geschichte folgt Jean (Jean-Quentin Châtelain), einem Lateinlehrer, der über seine komplizierten Gefühle gegenüber seinem Vater (ein unvergesslicher Marcel Bozzuffi) nachdenkt, der plötzlich gestorben war,.
Der Film beginnt mit einem Rückblick, in dem der Vater mit Jean als kleinem Jungen spielt und ihm gefährlich ein Messer an den Hals setzt – ganz im Stil von «Chameleon Street» von Wendell B. Harris Jr. oder jüngst Lynne Ramsays «Die My Love». Oder, biblisch gesprochen, inszenierte er die Opferung Isaaks durch Abraham.

Als Erwachsener beginnt Jean zu halluzinieren, während die Grenzen zwischen Realität und Träumen verschwimmen. Sein Vater beherrscht seine Gedanken, und Jean sucht Zuflucht, indem er mit jungen Frauen schläft.
Das Gymnasium, an dem er unterrichtet, weist viele Eigenheiten auf, besonders die Schülerinnen – eine von ihnen wirkt, als würde sie mit jedem Tag ein Stück mehr sterben, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.
Jean zögert, sich einzugestehen, dass irgendetwas nicht stimmt. In diesem Teil hat der Film mehr Gemeinsamkeiten mit der schwarzen amerikanischen Teenager-Komödie «Heathers»Externer Link (1988) als mit irgendetwas im europäischen Kino, da beide aus derselben Ära stammen und Figuren in übersteigerten Realitäten zeigen, die mit dem Schulalltag fertigwerden müssen.
Worte ans Licht bringen
Die Geschichte basiert auf dem gleichnamigen Buch des Schweizer Autors und Malers Jacques ChessexExterner Link. «Wir waren bereits befreundet, als ‘L’Ogre’ in Frankreich den renommierten Literaturpreis Goncourt erhielt», sagt Edelstein. Chessex’ Werk war zudem ein grosser kommerzieller Erfolg.
«Chessex sagte, er möchte, dass ich das Werk fürs Kino adaptiere», fügt Edelstein hinzu. «Das war natürlich eine grosse Chance, denn die Rechte wurden direkt mit dem Autoren verhandelt, was die Finanzierung erleichterte.»
Doch die Aufgabe war nicht einfach, erinnert er sich: «Das Buch ist nicht sehr leicht zu lesen und seine Schreibweise hat nichts Filmisches an sich. Daher war es eine Herausforderung, es zu adaptieren.»
Im Film verbringt Jean den grössten Teil der Zeit damit, besessen den Tod zu suchen, ohne die Signale um sich herum wahrzunehmen.

«L’Ogre» wurde in Farbe von Kameramann Bernard Zitzermann gefilmt. Edelsteins ausgeprägtes visuelles Gespür aus seiner frühen Arbeit als Kameramann macht ihn mit diesen technischen Aspekten besonders vertraut.
Die Bildgestaltung ist das Erste, was einen in diesen ansonsten schwierigen Film hineinzieht. Eine brutale Konfrontation am Ende zerstört jede Leichtigkeit oder Verspieltheit, die Edelstein im Verlauf des Films zu erkunden scheint.
Die Retrospektive als Jungbrunnen
Edelstein drehte nicht viele Spielfilme: Nach «Les Vilaines Manières» erschien 1980 «Un Homme en Fuite» (Ein Mann auf der Flucht), sechs Jahre später folgte «L’Ogre».
Danach drehte er «Visages Suisses» (Schweizer Gesichter), einen von 16 Kurzfilmen, die von der Auslandschweizer-Organisation und RTS in Auftrag gegeben und von Nestlé und Sandoz gesponsert wurden, um das 700-Jahr-Jubiläum der Schweizerischen Eidgenossenschaft im Jahr 1991 zu feiern.
Es dauerte ein weiteres Jahrzehnt, bis er mit «Passage au Crépuscule» (2000) wieder einen mittellangen Film veröffentlichte. Sein letzter Film, «Quelques Jours Avant la Nuit» (Einige Tage vor der Nacht), erschien 2008.
Seine beiden Filme in diesem Jahr auf den grossen Leinwänden in Locarno mit dem Publikum zu teilen, lasse ihn sich wieder wie ein 30-Jähriger fühlen, sagt der Schweizer Regisseur.
In genau diesem Alter war er, als «Les Vilaines Manières» 1973 im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden von Locarno stand. «Dieses seltsame Gefühl, wieder jung zu sein… Es weckt in mir den Wunsch, einen neuen Film zu drehen.»
Editiert von Eduardo Simantob und Simon Bradley, Übertragung aus dem Englischen mithilfe von Deepl: Christian Raaflaub

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