Sie jodelte sich in den Jazz, jetzt will sie die Schweiz zurückerobern
Das Jodeln hat Gabriela Martina zu Hause gelernt, tief in der Schweizer Provinz. Von dort aus ist sie aufgebrochen, um ihre Gesangskünste im Ausland zu erweitern – und hat in Amerika und Holland viel Lob geerntet. Doch in ihrer Heimat hat die Sängerin bis heute einen schweren Stand.
Gabriela Martinas neues Musikvideo «Hommage an den GrämlisExterner Link» wirkt wie die Eröffnungsszene einer Neuauflage von Heidi, dem fast mythologischen Schweizer Kulturexport. Doch die Berglandschaft im Hintergrund einer grünen Wiese ist kein reines Klischee. Gabriela Martina wuchs auf einem Bauernhof in der Nähe von Luzern auf – in der Zentralschweiz, mitten in der Schweizer Provinz.
Ihr Weg führte sie nach Boston (USA), wo sie sich am renommierten Berklee College of Music einschrieb und ihre heimischen Traditionen, insbesondere das Jodeln, mit experimenteller Musik und Jazz zu verschmelzen begann.
Nach 13 Jahren in den Vereinigten Staaten, mehreren Auszeichnungen und ermutigenden Kritiken in der Fachpresse beschloss sie, mit ihrem Mann nach Europa zurückzukehren. Zuvor hatte sie bereits während der Corona-Pandemie einige Zeit in der Schweiz verbracht, um sich dann in Amsterdam niederzulassen.
Die Pandemie verzögerte die Veröffentlichung ihres ersten Albums, aber sie sie gab ihr auch die Möglichkeit, ihre Jodelkenntnisse an der Hochschule Luzern bei Nadja Räss zu vertiefen und zahlreiche Lieder für ihr zweites Album States zu komponieren, das im Frühjahr 2024 erscheinen wird.
Die Sängerin und Komponistin ist rastlos. Begleitet von einer Band ehemaliger Studien-Kollegen nimmt Gabriela Martina derzeit in Boston neue Songs für ihr drittes Album auf – viele davon komponiert für ein Projekt mit der mosambikanischen Sängerin Angelina Mbulo.
Die Songs sollte eigentlich das Bewusstsein für das Thema Kinderheirat und ihre Folgen schärfen: häusliche Gewalt, ehelicher Missbrauch (physisch, sexuell oder psychisch) und das Verlassenwerden. Das Projekt musste sie jedoch aufgegeben, da Mbulo ein Jobangebot erhielt und nicht weiter daran arbeiten konnte.
«In der Zwischenzeit habe ich aber neun neue Stücke zum Thema ‹Weiblichkeit – Sexualität – Empowerment› komponiert», erzählt sie SWI swissinfo bei einem telefonischen Interview.
SWI swissinfo.ch: Nach vielen Jahren in den USA haben Sie sich entschieden, in Amsterdam zu leben. Warum Holland?
Gabriela Martina: Mein Mann kommt aus Finnland, ich aus der Schweiz, und wir sind in einer ziemlich instabilen Zeit in die USA gezogen – einerseits wegen der Corona-Krise, andererseits wegen der politischen Spannungen und anderer Dinge, wie dem Gesundheitssystem.
Wir haben dann beschlossen, nach Europa zurückzukehren. Wir hätten in die Schweiz oder nach Finnland gehen können, aber in jedem dieser Länder hätte einer von uns bei Null anfangen müssen, also haben wir uns für einen neutralen Ort entschieden, wo wir beide gleich sind. Amsterdam ist eine sehr multikulturelle Stadt mit vielen Veranstaltungsorten, aber wir sind nicht sicher, wie lange wir hier bleiben können.
SWI: Wie sah Ihre musikalische Ausbildung aus, und wie kam das Jodeln dazu?
G.M.: Das Jodeln habe ich hauptsächlich von meinen Eltern und meinem Umfeld, weil wir zu Hause immer am Samstag- und Sonntagnachmittag Musik gemacht haben. Meine Mutter spielte Klavier und Akkordeon, meine Geschwister spielten Instrumente, tanzten im Kreis.
SWI: Sind Ihre Familienangehörigen professionelle Musiker:innen oder Sänger:innen?
G.M.: Meine Mutter war im Kirchenchor, und sie hat Solos gesungen und Musikunterricht genommen. Sie konnte aber nie Musik studieren, während mein Vater seit 50 Jahren jeden Dienstagabend in einem Jodelclub singt. Sie sind zwischen 20 und 30 Männer und zwei oder drei Frauen und treten an Jodlerfesten auf, in der Kirche oder bei Veranstaltungen in der Stadt, bei Hochzeiten oder Beerdigungen.
Wir sind auch als Familie aufgetreten. Ich habe zwei Schwestern und einen jüngeren Bruder, und wir haben immer alle zusammen gejodelt.
SWI: Wie kam der Schritt zur Musikkarriere?
G.M.: Das war etwas, was ich in der Schule entdeckt habe, in Luzern. Einmal habe ich «Das Mädchen von Ipanema» aufgeführt, da war ich 17, und die Reaktion des Publikums hat mich sehr berührt. Ich habe gemerkt, okay, da gibt es etwas, was ich mit meiner Stimme machen kann, das die Leute anscheinend anspricht. Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich das Singen vielleicht ein bisschen ernster nehmen sollte.
SWI: Vor ein paar Jahren berichteten wir, dass die Hochschule Luzern einen Jodel-Diplomlehrgang lanciert hat. Sagt Ihnen das etwas?
G.M.: Ja, natürlich! Ich habe sogar dort studiert. 2020 bin ich aus den USA in die Schweiz zurückgekehrt, weil mein Vater sehr krank war. In dieser Zeit hat Corona zugeschlagen. Da habe ich mich gefragt: Was mache ich jetzt? Denn ich verlor mein Einkommen, meine Tourneen und eigentlich alle Auftritte von da an.
Ich suchte nach Möglichkeiten, mich über Wasser zu halten, und bewarb mich für das ZertifikatsprogrammExterner Link. Endlich konnte ich in einem sehr späten Alter professionell Jodeln studieren, aber ich war gerade daran, ein Album mit dem Titel «Homage to Grämlis» zu veröffentlichen, auf dem ich das Jodeln mit allem verband, was ich vorher gemacht hatte. Und es machte für mich einfach Sinn, mich tiefer damit zu beschäftigen.
SWI: Die Tradition des Jodelns wurde von Generation zu Generation eher informell weitergegeben, so auch bei Ihnen. Hat sich das in letzter Zeit verändert?
G.M.:Ja, ich glaube schon. Es ist so viel in Bewegung, nicht wahr? In dieser globalisierten Welt gibt es tonnenweise Student:innen, die aus verschiedenen Ländern in die Schweiz kommen, um das Jodeln zu lernen. Am letzten Jodlerfest, das ich besucht habe, war ein Jodler aus Südkorea dabei.
Natürlich ist er… Ich benutze nicht gerne das Wort Aussenseiter, aber die Leute hören so jemandem mit ganz anderen Ohren zu, und es ist immer eine Frage der Akzeptanz, des Respekts und der Bewunderung für den ganzen Aufwand. Ich finde das einfach verdammt cool.
SWI: Sie meinen den kulturellen Mix?
G.M.: Ja. Das ist so, als würde ich nach Brasilien gehen, die Sprache lernen und mich für brasilianische Musik begeistern. Davon habe ich keine Ahnung, und ich weiss, dass ich dafür Jahre, wenn nicht sogar ein ganzes Leben brauchen würde. Denn es ist nicht nur die Musik. Es ist das Essen, die Sprache, wie die Leute tanzen, wie sie schlafen, wie sie reden.
Jodeln ist keine Schweizer Sache. Es ist zwar Teil der Schweizer Kultur, aber man findet es auch in Österreich und in Deutschland. Wenn man nach Lappland fährt, haben die Samen ihren Joik. Und in Schweden gibt es den Kulning.
Auch in Afrika gibt es eine Form des Jodelns. Und wenn man nach Indien schaut…Ich habe gerade einen Inder hier in Amsterdam getroffen, der sagte: » Oh, das machen wir auch. Ich wusste gar nicht, dass die Schweizer jodeln» (lacht).
SWI: Gibt es heute so etwas wie einen modernen Jodel?
G.M.: Natürlich. Aber wenn es eine moderne Art des Jodelns gibt, dann gibt es auch eine Vielzahl von Künstler:innen, die das heute machen. Nadja Räss hat sicherlich einen moderneren Zugang zum Jodeln, auch Simone Felber und Erika Stucky sind zu nennen. Das sind nur einige aus der Schweiz, wobei ich mich in der Schweizer Szene leider nicht so gut auskenne.
SWI: Mit welcher Musik führen Sie beim Komponieren einen Dialog?
G.M.: Das hängt immer vom Konzept ab. Bei Hommage an Grämlis zum Beispiel war das ganz klar. Ich wollte eine Hommage an meine Kindheit, an meine Eltern, an meine Geschwister, an das Stück Land, auf dem ich aufgewachsen bin. Und ich wusste, dass ich das Jodeln irgendwie in meine Kompositionen einbauen musste.
Tatsächlich habe ich das Jodeln viele, viele Jahre später wiederentdeckt, das war wahrscheinlich 2016, als ich in Boston war und aus irgendeinem Grund gejodelt habe. Ich bin einfach in Tränen ausgebrochen und habe erkannt, da ist etwas, was mich zutiefst berührt, und ich muss mich mehr damit beschäftigen.
Das konnte ich nicht einfach so stehen lassen. Und das brachte mich auf die Idee, Stücke zu komponieren, die die ganze Geschichte von Grämlis, dem Bauernhof meiner Familie, einem breiteren Publikum näher bringen. Denn meine Eltern hatten beschlossen, ihren Hof 2018 aufzugeben, und so war es an der Zeit, ihnen für ihren Beitrag zur gesamten Gemeinschaft zu danken.
SWI: Sie haben 13 Jahre in den USA gelebt und leben nun in Holland, inwieweit halten Sie den Dialog mit der Schweiz aufrecht? Hat sich dieser durch die Distanz stark verändert?
G.M.: Nun, eine Sache, in der ich besser sein sollte, ist wählen zu gehen, denn ich interessiere mich sehr für Politik, aber aus irgendeinem Grund fällt es mir schwer, die Fristen einzuhalten. Ich erhalte den Auslandschweizer-Newsletter und weiss, dass Online-Wahlen immer noch ein grosses Thema sind. Aber das ist keine Entschuldigung.
Ich muss darin einfach besser werden. Ich bin immer in Kontakt mit der Schweiz, egal wo ich lebe. In den Niederlanden stehe ich in Kontakt mit der Schweizer Botschaft, und wenn sie mich für einen Auftritt oder ein Jodelkonzert oder was auch immer anfragen, mache ich gerne mit.
Ironischerweise ist es schwierig für mich, Auftritte in der Schweiz zu bekommen.
SWI: Woran liegt das?
G.M.: Vielleicht, weil ich in der Schweiz noch nicht wirklich einen Namen habe. Ich weiss, dass es in der Schweiz Veranstaltungsorte gibt, die sich nur um die Besucherzahlen scheren. Sie müssen Tickets verkaufen. Das muss funktionieren. Aber ich bin wirklich gut darin, Konzerte zu promoten, das habe ich schon in Boston gemacht, wo ich Ausländerin war.
Es ist frustrierend, denn wenn ich meine Musik nicht in der Schweiz aufführen kann, wie sollen die Leute sie dann überhaupt zu hören bekommen?
SWI: Ein häufiger Kritikpunkt von Schweizer Künstler:innen ist, dass man im Ausland schon sehr erfolgreich sein muss, um in der Schweiz «entdeckt» zu werden.
G.M.: Ja, ich frage mich nur, wann der Wendepunkt kommt, an dem jemand meine ganze Arbeit anerkennt. Die Musiker:innen, mit denen ich spiele, sind mit grossen Namen auf Tournee, sie haben unglaubliche Lebensläufe, und ich würde sie gerne in der Schweiz präsentieren. Und ich weiss, dass es den Schweizer:innen gefallen würde, aber erst müssen wir die Chance bekommen.
Editiert von Virginie Mangin, aus dem Englischen übertragen von Michael Heger.
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