Techno, Liebe und Kommerz

Unter dem Motto "Liebe, Freiheit, Toleranz" tanzten am Samstag (11.08.)wieder Hunderttausende zu Techno-Beats durch Zürichs Strassen. Was von der Techno-Szene zehn Jahre nach ihrem fulminanten Coming-out zu halten ist, zeigt ein Gespräch mit dem Journalisten und Techno-Diagnostiker Thomas Haemmerli.
Thomas Haemmerli, wie erklärt sich der grosse Erfolg der Street Parade?
Die Street Parade kriegt enormen Schub, weil sie ein ideales Medienthema ist. Im Vorfeld erscheinen überall Bilder, die mit nackter Haut und ausgeflippten jungen Menschen für die Parade werben und Leute anziehen. Das funktioniert als sich selbst erfüllende Prophezeiung. Menschen sehen lustige, tanzende Leute mit Sexappeal und verwandeln sich deshalb selber in lustige, tanzende Leute mit Sexappeal.
Ausserdem zieht die Street Parade, weil jeder sofort uneingeschränkt mitmachen kann. Man braucht sich nicht wie bei einem Konzert um gute Sicht zu balgen, man braucht kein Ticket, man geht einfach hin und ist dabei. So kommen zur soliden Basis eingefleischter Techno-Menschen immer noch massenhaft neue Leute dazu.
Im Gegensatz zu anderen Grossanlässen stellt die Techno-Szene bei ihren Events stets Werte wie Liebe, Freiheit oder Toleranz ins Zentrum. Wozu?
Techno arbeitet mit Sampling-Techniken: Techno-Musik zitiert beispielsweise hier ein paar Takte Discofunk, da drei Gitarrentöne von Jimi Hendrix. Visuell zitiert und übernimmt die Techno-Szene stilistische Codes aus dem SM-Lack-und-Leder-Segment oder futuristische Science-Fiction-Kleider. Begriffe wie Liebe, Freiheit und Toleranz scheinen mir ebenfalls Zitate zu sein, Zitate aus dem Fundus der Jugend- und Subkulturrebellion der Sechziger und frühen Siebziger.
Als Zitat ist das kein naiver Glaube mehr, man könne tatsächlich eine Gesellschaft in Liebe und Toleranz haben. Als Geste, als Verortung, als Befindlichkeit schwingt das Ideal aber mit. Das heisst, Techno ist eher der sanften Hippie-Kultur verpflichtet als etwa dem aggressiven, gewalttätigen Stil des Punk. Und tatsächlich geht es an Technoparties auch eher tolerant und sanft zu und her, der Stil der Leute ist friedlich und tolerant gegenüber den diversesten Lebensstilen, Freiheit, Toleranz und Liebe sind ein Teilprogramm einer guten Party.
Anders als in Berlin hat die Zürcher Street Parade den Status einer politischen Demonstration. Lässt sich dieser Status überhaupt rechtfertigen?
Die «Street Parade» steht für eine kommerzielle Marke, mit der Geld verdient wird. Und auch ein politisches Programm im herkömmlichen Sinn ist nicht auszumachen. Aber auch hier funktioniert bis zu einem gewissen Grad die sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Wenn die Organisatoren in Interviews und auf Handzetteln glaubhaft machen müssen, der Slogan «Friede, Toleranz und Freiheit» sei politisch, dann fahren viele an die Street Parade in der Überzeugung, an etwas teilzunehmen, das auch irgendwie politisch ist. Ausserdem liegt das Verbindende von Techno nicht in einem politischen Programm, sondern in ästhetischen, mentalen und toxischen Vorlieben.
Was hat Techno in den letzten zehn Jahren erreicht?
Techno hat einen nicht unbeträchtlichen Anteil an jugendlicher Freizeit erobert. In Konkurrenz mit anderen Freizeitangeboten, die beispielsweise links- und rechtsradikale Subkulturen anbieten. Wer statt ein Skin zu werden beim Techno landet, begegnet dort etwa einer offen zur Schau getragenen, und damit starken schwulen Komponente, er begegnet Drogen, die noch immer illegal sind und er begegnet einer Mentalität, die sehr viel Laisser-faire beinhaltet.
Das sind prägende Erfahrungen in einem vorpolitischen Feld. Erfahrungen, die prägen, auch wenn man nur vorübergehend in dieser Szene ist. Ausserdem: Da Techno als Subkultur entstanden ist, hat er viele Leute gelehrt, wie man etwas organisiert und auf die Beine stellt. Das bewirkt, dass sich mancher Technojünger plötzlich als Geschäftsmann entpuppt.
Dass Zürich heute eine dermassen starke Event-Kultur hat und nicht mehr die verschlafene, ordentliche Zwinglistadt ist, dazu hat Techno einiges beigetragen. Kurz: Techno befördert eine tolerante, hedonistische und oft drogengesättigte Mentalität. Und er hat im Freizeitsektor einen neuen Markt entstehen lassen, der einem heute erlaubt, ständig irgendwo ordentlich tanzen gehen zu können.
Interview Hansjörg Bolliger

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