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Genfer Konventionen neuen Entwicklungen anpassen

Franco Pagetti/VII

Die Genfer Konventionen sind nach wie vor sehr relevant, aber es ist wichtig, gewisse Aspekte des humanitären Völkerrechts den heutigen Gegebenheiten anzupassen: Dies erklärt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK).

Die humanitäre Organisation äusserte sich am Vortag des 60. Jahrestags der Unterzeichnung der vier Genfer Konventionen am 12. August 1949. Heute sind 194 Staaten der Welt an die vier Konventionen gebunden.

Die Bestimmungen der vier Genfer Konventionen betreffen den Umgang mit Verwundeten der bewaffneten Kräfte im Felde und zur See, die Behandlung von Kriegsgefangenen sowie den Schutz von Zivilpersonen in Konflikten. Zusammen bilden die Konventionen den Kern des humanitären Völkerrechts, das der Kriegsführung Grenzen setzt.

“Die Konventionen haben sich als völlig relevant erwiesen und sie bleiben weiterhin sehr wichtig für den Schutz von Tausenden von Menschen”, erklärte IKRK-Präsident Jakob Kellenberger am Dienstag vor den Medien in Genf.

Das internationale Völkerrecht sei seit 1949 nicht stillgestanden, sagte Kellenberger und verwies dabei auf drei Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen und auf die Abkommen zum Bann von Anti-Personenminen und Streubomben.

Aber es sei wichtig, gewisse Konzepte der Normen des humanitären Völkerrechts zu verdeutlichen, gewisse Regeln zu verstärken.

Wesentliche Klärung

So sei es “äusserst wichtig”, die Unterscheidung zwischen direkten Teilnehmern an Konflikten und nicht direkt Teilnehmenden klar und deutlich zu definieren. “Denn wenn diese Interpretation zu weit gefasst ist, werden zu viele Zivilpersonen zu rechtmässigen Zielen, wir brauchen eine klare, eng gefasste Definition”, erklärte der IKRK-Präsident.

Auch weitere Konzepte des Kriegsrechts wie militärische Ziele und Fragen der Verhältnismässigkeit sollten geklärt werden, damit das humanitäre Völkerrecht operationell verstärkt angewendet werden könne.

Da sich heute die meisten Konflikte nicht mehr zwischen Staaten, sondern innerstaatlich abspielten, und viele der Kämpfe nicht von Regierungen, sondern von Rebellengruppen ausgingen, müssten die Konventionen und Abkommen den neuen Gegebenheiten angepasst werden.

Das IKRK stellt zur Zeit eine Studie fertig, die untersucht, wie das humanitäre Völkerrecht mit Blick auf nicht-internationale bewaffnete Konflikte weiterentwickelt werden könnte.

“Es ist ziemlich klar, dass die Nicht-Respektierung des humanitären Völkerrechts durch nicht-staatliche Akteure ein grosses Problem ist”, sagte Kellenberger gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.

“Krieg gegen den Terrorismus”

60 Jahre nach der Unterzeichnung der Genfer Konventionen gebe es zwar noch immer zu viele Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht, erklärte der IKRK-Präsident.

“Ich denke aber nicht, dass der Respekt für das humanitäre Völkerrecht insgesamt gesunken ist. Es wäre falsch zu denken, dass Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht die Regel und dessen Respektierung die Ausnahme sind.”

In den vergangenen zehn Jahren habe er aber oft gegen Stimmen kämpfen müssen, die dem humanitären Völkerrecht seine Relevanz teilweise hätten absprechen wollen.

“Der Krieg gegen den Terrorismus” habe in dem Zusammenhang nicht geholfen und gewissen Staaten als Vorwand gedient, das humanitäre Völkerrecht nicht zu respektieren, erklärte Kellenberger.

Am Mittwoch organisiert das IKRK ein Treffen auf Diplomatenebene mit Vertretern der Vertragsstaaten. Dabei wird die Organisation unter anderem darlegen, wie sie den Herausforderungen begegnen will, vor denen die Konventionen und deren Anwendung heute stehen.

Zudem wird das IKRK die Ergebnisse einer vom ihm in Auftrag gegebenen Meinungsumfrage vorstellen, bei der es darum ging, herauszufinden, was die Menschen in kriegsgeschundenen Ländern von den Konventionen halten.

Bessere Umsetzung

Die Umfrage bei 4000 Menschen in Afghanistan, der Demokratischen Republik Kongo, Georgien, Haiti, Kolumbien, Libanon, Liberia und auf den Philippinen ergab, dass die meisten Menschen entweder nichts von den Konventionen wussten oder erklärten, diese funktionierten nicht.

75% erklärten, es sollte Grenzen geben, wie weit Kämpfer gehen dürfen, während 10% erklärten, es sollten keine solchen Grenzen gesetzt werden.

In Liberia erklärten 65% der Antwortenden, sie hätten von den Konventionen gehört; 85% dieser Leute befanden, die Abkommen hätten eine “grosse” oder “recht starke Wirkung” entfaltet.

In Libanon erklärten 69%, dass sie von den Konventionen wussten, aber nur 36% davon waren der Ansicht, die Abkommen seien auch tatsächlich wirksam, um das Leiden der Menschen einzuschränken.

“Wenn man die Umfrage etwas kritischer betrachtet, sieht man, dass die Genfer Konventionen wichtig sind und dass die dort festgelegten Normen respektiert werden sollten. Die Umfrage zeigt aber auch, dass die Abkommen besser umgesetzt werden müssten”, erklärte Philippe Spoerri, IKRK-Direktor für Internationales Recht.

“Es muss noch sehr viel mehr getan werden, damit man die Konventionen kennt und sie ihre Wirkung entfalten können.”

Simon Bradley, Genf, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

Das IKRK ist eine private Organisation unter Leitung eines Komitees, dessen 15 bis 25 Mitglieder ausschliesslich Schweizerinnen und Schweizer sind.

Im vergangenen Jahr lag das Budget bei 1,1 Mrd. Franken – so hoch wie nie zuvor.
Die Schweiz ist das drittwichtigste Geberland des IKRK, hinter den USA und Grossbritannien.

2008 unterstützte die Schweiz das IKRK mit insgesamt 101,05 Millionen Franken. 2009 werden es 105 Millionen Franken sein.

Das IKRK hat rund 11’800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, darunter 9500 Schweizer und mehr als 1300 Delegierte aus verschiedenen Ländern. Bis in die 1990er-Jahre hatten nur Schweizerinnen und Schweizer Delegierte für Auslandeinsätze werden können.

Finanziert wird die Arbeit des IKRK zum grössten Teil aus Beiträgen von Staaten und supranationalen Körperschaften, die Organisation ist aber unabhängig von Regierungen.

Zurzeit ist die Organisation in etwa 80 Ländern im Einsatz und unterstützt jährlich etwa 15 Millionen Menschen. Zu den grössten Operationen gehören die Einsätze in Sudan, Somalia, Irak, Afghanistan, Sri Lanka und Tschad.

Das IKRK hat die Aufgabe, die Einhaltung der Genfer Konventionen weitweit zu überwachen. Das IKRK übernimmt in Konfliktsituationen eine neutrale Vermittlerrolle.

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