
Internationale Adoptionen: Wie man Kinder aus Chile in die Schweiz exportierte

Bis in die 1990er-Jahre wurden mehr als 20’000 Kinder aus Chile zur Adoption ins Ausland gegeben. Im Fall der Schweiz mit Unterstützung der Botschaft in Santiago.
Ab Ende der 1970er-Jahre adoptierten in der Schweiz immer mehr Familien Kinder aus dem Ausland, meist aus sogenannten Entwicklungsländern. Gründe waren unerfüllter Kinderwunsch, wenig Waisenkinder in der Schweiz und die Hoffnung, einem verarmten Kind zu helfen. Laut Statistik waren es bis 2000 über 15’000 Kinder.
Chile war «der weissen Hautfarbe wegen» besonders beliebt, wie die Schweizer Botschaft 1989 schrieb. Mindestens 384 Kinder adoptierten Schweizer Ehepaare aus dem Land. Für Swissinfo erhielt ich in den Staatsarchiven mehrerer Kantone Einsicht in 34 anonymisierte Adoptionsunterlagen für Kinder aus Chile.
Nach Schätzungen gab Chile insgesamt über 20’000 angeblich verlassene Kinder zur Adoption frei. Doch oft wurden sie ihren Müttern entrissen, und dubiose Zwischenhändler:innen profitierten. Heute fordern Betroffene Aufklärung und Wiedergutmachung.
Die Schweiz will internationale Adoptionen verbieten. Lesen Sie hier, was die Gründe dafür sind und wie andere Länder reagieren:

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Das Gefühl, von der Mutter verlassen worden zu sein
Auch Angeline-Lolita Masson aus Vevey wurde mit drei Monaten adoptiert. Sie meint, «ich dachte immer, ich wäre von meiner leiblichen Mutter verlassen worden». Ein Anwalt erzählte ihren Adoptiveltern, eine Sexarbeiterin habe das Neugeborene zurückgelassen – er habe es gerettet. Erst vor zwei Jahren fand die heute 37-Jährige heraus, dass ihre Mutter gezwungen wurde, sie abzugeben. Der Anwalt hatte vermutlich Geld verdient, die Mutter, Clementina Rosa Becerra León, suchte ihre Tochter bis dato.

Wie ihr geht es Tausenden Frauen. März 2025, vor dem Museum für Menschenrechte in Santiago zeigen handgestrickte Babyschuhe den Weg zu einer Pappfigur, die ein Kind fortträgt. Die Installation gehört zur Versammlung der Organisation Hijos y Madres del Silencio (HMS), in der sich leibliche Mütter vernetzen.
Die Frauen wurden jung – meist unverheiratet – schwanger und manche gehören einer indigenen Minderheit an. Sie lebten auf dem Land oder in einem der Armenviertel der grösseren Städte des Landes. Kurz nach der Geburt nahm man ihnen dann das Kind weg: Zum Teil sagte ihnen das Spitalpersonal, es habe eine Totgeburt gegeben. In anderen Fällen zwangen Sozialarbeitende oder Familienangehörige die Mutter dazu.
Die Rolle der chilenischen Gerichte
Journalistische Recherchen, unter anderem vom chilenischen Investigativportal Ciper konnten aufzeigen, dass Richter:innen eine zentrale Rolle bei den irregulären Adoptionen spielten: Sie waren Teil eines grösseren Netzes aus Spitalpersonal, Anwält:innen, Sozialarbeitenden und internationalen Adoptionsvermittlungen, das früh Mütter identifizierte und ihnen meist durch Zwang oder Betrug die Neugeborenen wegnahm. Das mit dem Ziel, an der Adoptionsvermittlung Geld zu verdienen. Anfang Juni 2025 erliess ein chilenisches Gericht einen ersten Haftbefehl gegen eine beteiligte Richterin und vier weitere Personen, denen ein solches Delikt vorgeworfen wird.
Obwohl die Taten meist schon über 30 Jahre her sind, können sie weiterhin strafrechtlich belangt werden. Die chilenische Justiz geht bei Straftaten im Rahmen irregulärer Adoptionen davon aus, dass es sich je nach Fall um Menschenrechtsverletzungen handeln könnte. Dementsprechend kann eine Verjährung ausgesetzt werden.
Denn die Ausfuhr von Kindern erlebte unter der Militärdiktatur von 1973 bis 1990 ihren Höhepunkt. Es war damals unmöglich, sich gegen Entscheide von Gerichten zu wehren. Müttern, die etwa nicht die Mär einer Totgeburt im Krankenhaus glauben wollten, wurde mit der Polizei gedroht. Eine Festnahme konnte unter den Militärs zu Folter oder gar zum Tod führen.

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Auf dem Papier sauber
Einige der 34 anonymisierte Adoptionsunterlagen, die ich einsehen konnte, enthalten wenig Informationen zum Ursprung des Kindes. In einigen findet sich lediglich eine gerichtliche Ausreisebewilligung für das Kind. Dokumente fehlen, die angeben, ob die Mutter mit einer Adoption einverstanden war oder das Kind verlassen wurde. Doch eigentlich waren solche Informationen in der Schweiz zwingend notwendig, um eine Adoption zu vollziehen.
Andere Adoptionsunterlagen sind deutlich umfangreicher: Meist gibt hier ein Gerichtsverfahren die Vormundschaft an ein Ehepaar zur späteren Adoption in der Schweiz. In den Protokollen wird vermerkt, dass die anwesende leibliche Mutter mit der Adoption einverstanden war oder das Kind im Krankenhaus «zurückgelassen» habe. Zum Teil weisen Berichte von Sozialarbeitenden auf die prekären Lebensverhältnisse der leiblichen Eltern hin, weshalb sich diese zu einer Adoption gezwungen sahen. Auf dem Papier scheint es, als gab es in diesen Fällen keine irregulären Vorgänge.
Doch meine Recherchen für den BeobachterExterner Link weisen darauf hin, dass die Gerichtsunterlagen zum Teil falsche Aussagen beinhalten: Aussagen der leiblichen Eltern waren erfunden, unterschriebene Einverständniserklärungen gefälscht. Den Müttern war das Kind weggenommen worden, später hat man sie weder über laufende Verfahren informiert noch einbezogen.
Die Schweizer Botschaft förderte Adoptionen aus Chile

Die Schweizer Behörden hätten damals reagieren können. Denn bereits im August 1988 veröffentlichte die Sonntags-Zeitung eine Recherche über Kinderhandel in Chile. Darin beschrieb der Journalist das System, das für Kosten von bis zu 22’400 Schweizer Franken angeblich verlassene Kinder vermittelte. Eine «Mafia», die in den Augen des Journalisten durch die grassierende Armut, fehlende Verhütung und Akzeptanz der Militärjunta gefördert wurde.
Der Bericht ist auch im Bundesarchiv in den Dokumenten der Botschaft von Santiago de Chile zu finden. Doch anstatt gegen die irregulären Tätigkeiten vorzugehen und die Behörden in der Schweiz über Missstände zu informieren, förderte die Botschaft damals weiterhin Adoptionen aus Chile. Im Bundesarchiv in Bern finden sich Briefe, in denen das Botschaftspersonal bis Anfang der 1990er-Jahre adoptionswillige Ehepaare in ihrem Vorgehen berät. Mal werden Adressen von Adoptionsvermittlungen zugesandt, mal wird Auskunft darüber gegeben, in welcher Region besonders viele Kinder zur Verfügung stehen. Nicht zuletzt handelte es sich teilweise auch um Schweizer Botschaftspersonal, stationiert in anderen Ländern, das Interesse an Adoptionen bekundete.
Die Schweizer Regierung hat sich bereits 2020 für die eigenen Versäumnisse entschuldigt und mehrere Studien in Auftrag gegeben, um das Ausmass der irregulären Adoptionen weiter zu untersuchen.

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Das Ende der irregulären Adoptionen
Mit der Rückkehr zur Demokratie seit 1990 wurde das Tätigkeitsfeld der Vermittlungen zunehmend eingeschränkt. In den 1990er-Jahren setzte der chilenische Staat mehrere Reformen durch, die die weitverbreitete Korruption innerhalb des Justizsystems bekämpfen und Auslandsadoptionen einschränken sollten. 1999 trat Chile – drei Jahre vor der Schweiz – dem Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption bei. Da ab dann nur Adoptionen mit Mitgliedstaaten durchgeführt werden durften, war es das Ende für Auslandsadoptionen in die Schweiz.
Mehr als 30 Jahre danach suchen heute immer noch Tausende nach ihren leiblichen Eltern oder verlorenen Kindern. Die Opferorganisation HMS fordert auch die damals beteiligten Staaten auf, bei der Herkunftssuche zu helfen. Ein wichtiger Schritt sei die Schaffung einer DNA-Datenbank, weil zum Teil während der Adoption falsche oder unvollständige Daten der leiblichen Eltern angegeben wurden. Anfang Juni folgte die chilenische Regierung dieser Forderung und kündigte die Schaffung einer solchen Datenbank an.
Betroffene wie Angeline-Lolita Masson sehen sich weiterhin von den Schweizer Behörden alleingelassen. Masson sagt, «die Wahrheit zu erfahren, hat mich schwer belastet». Sie brauche mehr Unterstützung und einen Umgang mit den Fehlern von damals, der sich an die Bedürfnisse der Opfer anpasst.
«Ich wurde zwar immer offen empfangen», erklärt Masson, allerdings herrsche ein institutionelles Chaos. Dies führe zu monatelangen Wartezeiten und unzähligen Behördenlaufen. «Mir persönlich geht es mittlerweile vor allem um moralische Wiedergutmachung», meint Masson abschliessend, «und die Möglichkeit Zeit mit meiner leiblichen Familie zu verbringen».
Südkorea, Sri Lanka, Indien: Lesen Sie hier aus welchen Ländern einst auch noch adoptierte Kinder in die Schweiz kamen:

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Editiert von Benjamin von Wyl

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