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Ein neues Leben für tausend “Illegale” in Genf

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70% der im Rahmen des Genfer Papyrus-Programms legalisierten Einwanderer sind weibliche Hausangestellte. Getty Images

Rund 76'000 Personen ohne Papiere leben mutmasslich in der Schweiz. Letztes Jahr lancierte der Kanton Genf – wo rund 13'000 Sans Papiers leben – ein Pilotprojekt, um sie zu legalisieren. Wie sieht die Zwischenbilanz nach einem Jahr aus?

“Ich hörte, in der Schweiz sei es besser”, sagt Purevmaa aus der Mongolei, als sie sich daran erinnert, wie sie vor 13 Jahren “untertauchte”. Heute ist sie eine der 1093 Personen, die am Projekt Papyrus teilgenommen haben. Dieses einzigartige Pilotprojekt zielt darauf ab, Arbeitskräfte, die lange Zeit ohne Papiere in Genf lebten, zu legalisieren.

Seit 2005, jenem Jahr, in dem sie in die Schweiz kam, arbeitet Purevmaa als Haushaltshilfe, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. “Viele andere Frauen aus meinem Land haben gute Jobs in Genf gefunden”, sagt sie. “Ich entschied mich, hierhin zu kommen. Ich kam mit 24 Jahren mit einer anderen jungen Frau aus der Mongolei an, deren Bruder bereits hier lebte. Wir wohnten bei ihm und fanden eine Arbeit.”

Als Frau sei es “einfach”, in Schweizer Haushalten Arbeit zu finden, sagt sie. Zudem behandelten ihre Auftraggeber sie gut. Sie verdiene anständig und könne gemeinsam mit dem Einkommen ihres Mannes die Bedürfnisse ihrer Familie abdecken.

Als nun die Operation Papyrus angelaufen war, entschied sich Purevmaa, in diesem Rahmen einen Antrag auf Anerkennung ihres Aufenthaltsstatus zu stellen. Hilfe beim Zusammenstellen der Dokumente erhielt sie von der interprofessionellen Gewerkschaft der Arbeiterinnen und ArbeiterExterner Link (SIT).

“Es dauerte drei Monate, bis ich die Dokumente beisammen hatte”, sagt sie. “Schwieriger aber war, dass ich sechs Monate warten musste, bis ich einen Entscheid erhalten habe.” Hätte sie eine negative Antwort erhalten, hätte sie das Land verlassen müssen. Sie wurde aufgenommen.

Doppeltes Ziel

Laut dem Genfer Regierungsrat Pierre Maudet verfolgt das Papyrus-Projekt zwei Ziele: “Es soll den Status von papierlosen Immigranten nach strengen Kriterien innerhalb eines festgelegten rechtlichen Rahmens normalisieren. Und es hilft, jene Bereiche der Wirtschaft zu säubern, die von illegaler Beschäftigung und unlauterem Lohnwettbewerb betroffen sind”, sagte er an einer Pressekonferenz zum ersten Jahr des Projekts.

Insgesamt haben 1093 illegale Arbeitskräfte (244 Familien, acht kinderlose Paare, 291 Singles) seit Beginn des Projekts 2015 eine Bewilligung erhalten; nur vier Personen wurden abgelehnt und ausgeschafft.

Papyrus sorgte weitherum für Aufmerksamkeit. Und auch wenn es nur ein Genfer Projekt ist, kann es auf Unterstützung der Landesregierung zählen. Für Bern ist es “ein interessanter Sondierungspfad zur Behandlung des Themas Migration und illegale Beschäftigung”, wie Mario Gattiker, Leiter des Staatssekretariats für Migration (SEM), sagt.

Er betont aber auch, die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen für illegale Einwanderer bleibe Bundessache. So werden die Papyrus-Anträge im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Rahmenbedingungen geprüft. Das Projekt sei “weder eine kollektive Anerkennung noch eine Amnestie, sondern eher eine Evaluation von Fall zu Fall”, so Gattiker.

Das Programm ist auch das Ergebnis eines langen Kampfs von Organisationen, die sich für die Rechte von arbeitenden Sans Papiers einsetzen. Während 15 Jahren arbeiteten diese zusammen an einer breit gestreuten Kampagne, um Leute zu finden, die den Kriterien für eine Regularisierung entsprechen.

  • Finanzielle Unabhängigkeit beweisen
  • Gegenwärtige Anstellungsverhältnisse offenlegen
  • Schuldenfrei und ohne laufendes Gerichtsverfahren
  • 10 Jahre ohne Unterbruch in Genf gelebt (5 Jahre, falls Personen mit Schulkindern)
  • Grundkenntnisse der französischen Sprache

Rund 3000 Personen haben im Rahmen des Programms Hilfe angefordert, sagt Marianne Halle vom Schweizer Kontaktzentrum für ImmigrantenExterner Link (CCSI).

Laut einer Studie der Universität Genf stammt die grösste Gruppe der Antragsteller aus Lateinamerika. Rund 80% der regularisierten Dossiers kamen aus dieser Region, besonders aus Brasilien, Bolivien und Kolumbien. Weitere 10% stammten aus Osteuropa (Kosovo, Mazedonien, Bosnien), 6% aus Asien (Philippinen, Mongolei) und 3% aus Afrika (Marokko, Algerien, Tunesien).

Viele aber erfüllen die Kriterien nicht. Genf zählt gemäss Zahlen des SEM weiterhin rund 13’000 illegale Immigranten. Laut Remy Kammermann, Anwalt am Centre Social ProtestantExterner Link, sind diese Leute nicht berechtigt, beim Projekt Papyrus mitzumachen, “sei es, weil sie Schulden haben oder weil ihr Einkommen nicht ausreicht, um ihren Aufenthalt hier zu finanzieren”.

Für jene aber, die wie Everton aus Brasilien die Kriterien erfüllen und einen legalen Status erhalten, sind die Veränderung im täglichen Leben und der tiefere Stress signifikant.

Gemischte Reaktionen

Während das Projekt in Genf weitergeht – monatlich werden etwa 15 neue Dossiers eingereicht –, sorgt es für Aufmerksamkeit und Kritik inner- wie auch ausserhalb des Kantons. Für die lokale Sektion der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) sendet das Programm ein “katastrophales Signal” aus und wird mehr Illegale in die Region locken.

Bereits leben in Genf 17% aller Sans Papiers der Schweiz, gemäss Statistik von 2015. Und schon vor Papyrus war der Kanton aktiver als alle anderen, wenn es um die Regularisierung solcher Menschen ging.

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So hat etwa Zürich, wo der grösste Anteil der Sans Papiers lebt, in der Zeitperiode von 2012 bis 2016 lediglich den Status von zehn Personen regularisiert. Laut Kammermann “bestreiten viele Behörden in der Deutschschweiz das Problem, was für einen Kanton [Zürich] erstaunlich ist, in dem 25’000 bis 30’000 Sans Papiers leben”.

In Deutschschweizer Kantonen und in angelsächsischen Ländern sei oft das Argument zu hören, dass “man Sans Papiers nicht helfen sollte, weil dies als Belohnung für ihren illegalen Aufenthalt angesehen werden könnte”.

Doch viele beobachten die Situation in Genf ganz genau. SEM-Chef Gattiker will die Möglichkeit nicht ausschliessen, dass “einige Kantone auf den Schlussbericht des Papyrus-Projekts warten, um die Möglichkeit zu analysieren, ein ähnliches Programm zu starten, angepasst an die jeweiligen Gegebenheiten”.

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(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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