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Beliebt als Mensch, umstritten als Politiker

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Ignazio Cassis: Der 56-jährige Nationalrat und FDP-Fraktionschef im Bundeshaus wird als Kronfavorit für das frei werdende Bundesratsamt gehandelt. Kilian J. Kessler/Ex-Press

FDP-Fraktionschef Ignazio Cassis ist ein politischer Spätzünder. Gleichwohl hat der 56-jährige Arzt nun beste Chancen, Bundesrat Didier Burkhalter als Nachfolger zu beerben. Im Umgang ist der kinderlos verheiratete Tessiner äusserst angenehm und entsprechend beliebt. Politisch hingegen scheiden sich die Geister an dem überzeugten Liberalen. Ein Porträt.

Als der Schweizer Bundesrat und Aussenminister Didier Burkhalter Mitte Juni überraschend seinen Rücktritt ankündigte, war ein Name sofort in aller Munde: Ignazio Cassis. Der 56-jährige Nationalrat und FDP-Fraktionschef im Bundeshaus wird seither als Kronfavorit für das frei werdende Bundesratsamt gehandelt.

Inzwischen sind die Waadtländer Nationalrätin Isabelle Moret und der Genfer Staatsrat Pierre Maudet auf das Kandidaten-Karussell aufgesprungen. Sie wurden von ihren Kantonalparteien ins Rennen geschickt. Zur Wahl am 20. September wird erwartet, dass die FDP der Bundesversammlung ein Ticket mit mindestens zwei Namen präsentiert.

Cassis hatte sich nur einen Monat Zeit gelassen, bis er offiziell erklärte, für die Wahl zur Verfügung zu stehen. Am 1. August, just am Nationalfeiertag, erklärte ihn seine Kantonalpartei, die FDP Tessin, zum offiziellen und alleinigen Kandidaten aus der Südschweiz.

Erleichtert über Konkurrenz

„Egal, was du machst, du wirst kritisiert.“

Cassis ist erleichtert, dass es nun Konkurrenten aus der Westschweiz gibt. “Das nimmt etwas Druck weg von meiner Person”, sagt er im Gespräch mit swissinfo.ch während des Filmfestivals von Locarno. Tatsächlich war der mediale Druck in den letzten Wochen sehr hoch. “Manche Medien haben sich auch mehrmals am Tag bei mir gemeldet”, erzählt Cassis.

Der Tessiner berichtet von dieser Erfahrung, wie es zu seinem Stil gehört: Offen und direkt. Tatsächlich ist der unkomplizierte Umgang mit diesem Politiker allgemein bekannt. “Herzlich, umgänglich, kommunikativ” sind Attribute, die ständig in einem Atemzug mit Cassis genannt werden. “Er ist ein Typ, mit dem man morgen in die Ferien fahren könnte”, liess sich SVP-Nationalrat Adrian Amstutz zitieren.

Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) bescheinigt dem Tessiner eine “Harmoniebedürftigkeit”, die vielleicht sogar zu ausgeprägt sein könnte, weil dies allenfalls einen Mangel an Führungsfähigkeit bedeuten könnte. Und diese Fähigkeit brauche ein Bundesrat. Cassis selbst nimmt all diese Beurteilungen über seine Person mit Philosophie. “Wie man es macht, ist es wohl falsch”, sagt er. Wer zu stark führe, werde als Diktator kritisiert.

Feminin geprägtes Elternhaus   

Aufgewachsen ist Cassis in Sessa, einer kleinen Gemeinde der Region Malcantone bei Lugano – nahe der italienischen Grenze. Sein Vater Gino war Landwirt, später Versicherungsagent. Ignazio wurde 1961 als drittes Kind geboren, nachdem bereits zwei Mädchen da waren.

“Mein Vater soll hupend durchs Dorf gefahren sein, um den ersten Jungen zu feiern”, schreibt Cassis im Lebenslauf auf seiner Homepage (www.ignaziocassis.chExterner Link). Noch eine jüngere Schwester folgte in diesem feminin geprägten Elternhaus.

Mit elf Jahren dann ein einschneidendes Ereignis: Er verlor den kleinen Finger an der rechten Hand an einem Geländer mit Eisenzacken und musste seine Hobbys wechseln. Trompete statt Klavier und Laufsport statt Kugelstossen. Geblieben ist bis heute seine Liebe zur Musik. Er singt nicht nur selbst als “Cantautore” zur Gitarre, sondern zeigt auch gerne seine Sammlung mit mehr als 1000 Schallplatten.

Politischer Späteinsteiger

Zur aktiven Politik stiess Cassis äusserst spät – mit 46 Jahren. Zwar sass er zehn Jahre lange im Gemeinderat seiner Wohngemeinde Montagnola, doch in die Kantonspolitik gelang er nie. Dies lag auch daran, dass sein Amt als Kantonsarzt nicht mit einem politischen Amt für den Kanton vereinbar war.

Als die FDP 2003 einen Kandidaten und möglichst einen Arzt für die nationalen Wahlen suchte, liess er sich aufstellen. Er verpasste zwar den Einzug ins Bundesparlament, doch nach der Wahl von Laura Sadis 2007 in den Tessiner Regierungsrat rutschte er als erster Ersatzkandidat in Bern nach.

Cassis hatte in Zürich und Lausanne Medizin studierte, was erklärt, warum er neben seiner Muttersprache Italienisch auch fliessend Deutsch und Französisch spricht. Nach seiner Rückkehr ins Tessin spezialisierte er sich als Präventivmediziner. So führte er 1989 unter anderem die erste HIV-Sprechstunde durch. Als Kantonsarzt war er im sozialdemokratisch geführten Gesundheitsdepartement von Staatsrätin Patrizia Pesenti tätig.

Von links nach rechts gerückt

Tatsächlich befürwortete Cassis lange staatliche Interventionen; er sprach sich früh für das Rauchverbot in Kneipen genauso wie für ein Tabakwerbeverbot aus. Gesellschaftspolitisch ist er bis heute durchaus links-liberal. Er heisst die Legalisierung von Cannabis gut und befürwortet auch Homo-Ehen.

Wirtschaftspolitisch ist er indes deutlich nach rechts gerutscht, fordert in Namen der Freiheit Eigenverantwortung und weniger Bürokratie. Dies haben diverse Parlamentarier-Rankings aufgezeigt. “Ich verstehe viele Dossiers heute besser als früher”, erklärt er diesen Shift.

„Man könnte meinen, Krankenkassen seien Terrorgruppen.“

Als “freisinnigen Musterschüler” bezeichnete ihn die linke Wochenzeitung WoZ. Und überhaupt ist Cassis den Linken ein Dorn im Auge. Die SP nimmt Cassis unter anderem wegen seines Widerstands gegen die jüngste Rentenreform ins Visier.

Zu Diskussionen führt insbesondere sein Mandat als Präsident des Krankenkassenverbandes Curafutura, einem Zusammenschlusss von vier grossen Krankenkassen, für das er 180‘000 Franken jährlich erhält. Man wirft “Krankencassis” vor, einfach ein Lobbyist und Interessenvertreter der Krankenkassen zu sein. Die heftigen Angriffe setzten Cassis zu. “Man könnte meinen, Krankenkassen seien Terrorgruppen”, replizierte er in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger.

Einkünfte transparent gemacht

Die Kritik an seinem Verdienst weist er zurück. Im Gegensatz zu anderen Parlamentariern, habe er alle seine Einkünfte offen gelegt. Rund 300‘000 Franken pro Jahr verdient er demnach mit seinen politischen und professionellen Ämtern.

Cassis kam zwar spät zur Bundespolitik, ist seither aber überaus aktiv. Dies zeigt die lange Liste der politischen Ämter, Kommissionsmandate und Positionen im Rahmen von Interessenbindungen, die er innehatte oder nach wie vor bekleidet (https://www.parlament.ch/de/biografie?CouncillorId=3828Externer Link).

Besonders wichtig ist natürlich die Übernahme der Präsidentschaft der FDP-Fraktion im Jahr 2015, wodurch sein politisches Gewicht auf Bundesebene deutlich zunahm.  Zudem ist er Präsident der einflussreichen Gesundheitskommission.

Der geröntgte Kandidat

Als Kronfavorit für die Nachfolge von Bundesrat Burkhalter wird Cassis zurzeit wie kein anderer Schweizer Politiker durchleuchtet. Er hat sich darauf eingerichtet. Er weiss, dass man als Bundesratskandidat eine dicke Haut braucht.

Sein viel kritisiertes Präsidentenamt bei Curafutura lässt er einstweilen ruhen, er wird aber weiter –zumindest zu Hälfte – bezahlt, was erneut Kritik auslöste. Für Cassis bestätigt sich: „Egal, was du machst, du wirst kritisiert.“ Den Vorschlag zur Kürzung der Bezüge habe er selbst gemacht.

Cassis ist seit 25 Jahren mit der Röntgenärztin Paola Rodoni verheiratet. Selbst zu delikaten Fragen wie der Kinderlosigkeit des Paares, äussert sich der Kandidat: „Medizinisch war eigentlich alles in Ordnung, doch bei uns hat es mit Kindern einfach nicht geklappt.“

Und er räumt auch ein kleines Laster ein: Obwohl er Präventivmediziner ist, erlaubt er sich ab und zu eine Zigarette.

Durch den überraschenden Rücktritt von Didier Burkhalter ist die Kandidatur von Ignazio Cassis möglich geworden. Sollte Cassis am 20.September tatsächlich gewählt werden, wäre er der achte Bundesrat aus dem Tessin. Seit dem Rücktritt von Flavio Cotti im Jahr 1999 ist die italienische Schweiz nicht mehr in der Landesregierung vertreten.

Genau dieser Tatsache – der Einbindung der italienischen Schweiz in die Regierung – wird momentan viel Platz eingeräumt. „Die Regionalfrage ist zurzeit wichtiger als die Frauenfrage“, sagt etwa CVP-Präsident Gerhard Pfister. Und selbst für die Präsidentin der FDP-Frauen, Doris Fiala, hat die Frauenfrage im Moment keinen absoluten Vorrang.

Die Ausgangslage ist günstig, weil im Bundesrat momentan drei Vertreter aus der Westschweiz einsitzen (Didier Burkhalter, Alain Berset, Guy Parmelin) und vier aus der deutschen Schweiz (Doris Leuthard, Simonetta Sommaruga, Johann Schneider-Amman, Ueli Maurer). Auch mit dem Verlust eines Sitzes wäre die Westschweiz proportional noch gut repräsentiert.

Sieben Tessiner Bundesräte

Sieben Politiker aus dem Tessin gehörten seit der Gründung der modernen Eidgenossenschaft als Bundesstaat (1848) dem Bundesrat an. Die Statistik zeigt, dass es lange Durststrecken ohne Tessiner Vertretung in der Landesregierung gab, beispielsweise zwischen 1864 und 1911. Das waren 47 Jahre.

Stefano Franscini (1796-1857), FDP, Bundesrat von 1848 bis 1857
Der Lehrer, Publizist und Statistiker wurde 1848 in den Bundesrat gewählt. Er leistete wichtige Beiträge zur Gründung der ETH und im Bereich der Statistik.

Giovanni Battista Pioda (1808-1882), FDP, 1857 bis 1864
Der Jurist und Diplomat wurde 1857 als Nachfolger von Stefano Franscini in den Bundesrat gewählt. Diesem gehörte er knapp sieben Jahre lang an. Anschliessend vertrat er als Sondergesandter die Interessen der Schweiz in Italien.

Giuseppe Motta (1871-1940), CVP, 1911 bis 1940
Als Vorsteher des Aussendepartementes (1920 bis 1940) nahm Motta auf die Aussenpolitik einen direkten und persönlichen Einfluss. Er engagierte sich für den Beitritt der Schweiz zum Völkerbund unter der Wahrung der militärischen Neutralität.

Enrico Celio (1889-1980), CVP, 1940 bis 1950
Der Sprachwissenschaftler und Jurist wurde als Nachfolger von Giuseppe Motta in den Bundesrat gewählt. Er stand dem Post- und Eisenbahndepartement vor. Nach seinem Rücktritt wurde er Schweizer Gesandter in Rom.

Giuseppe Lepori (1902-1968), CVP, 1954 bis 1959
Lepori wurde am 16. Dezember 1954 in den Bundesrat gewählt. Während seiner Amtszeit stand er dem Post- und Eisenbahndepartement vor und hatte sich vor allem mit dem neuen Medium Fernsehen zu beschäftigen.

Nello Celio (1914-1995), FDP, 1966 bis 1973
Während seiner Amtszeit stand Nello Celio dem Militärdepartement und dem Finanz- und Zolldepartement vor.

Flavio Cotti (* 18.10.1939), CVP, 1986 bis 1999
Der Jurist begann seine berufliche Karriere als Anwalt und Notar. Von 1984 bis 1986 präsidierte er die CVP Schweiz, bevor er in den Bundesrat gewählt wurde. Er war Chef des Innendepartements und danach des Aussendepartements.


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