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“Malis politisches Modell muss überdacht werden”

Keystone

Von mehr oder weniger allen Seiten begrüsst, lässt die französische Intervention in Mali auch etliche Fragen offen. Gilles Yabi, der die Region gut kennt, warnt vor der Versuchung einer zu einseitigen Auslegung des Konfliktes, welche die aktuelle Krise noch verschärfen könnte.

Der Einsatz der französischen Armee in Mali hat ein Schlaglicht auf eine Region geworfen, die nun als das neuste Pulverfass der Welt gilt. Gilles Yabi stammt aus Benin und ist Direktor für Westafrika bei der Nicht-Regierungsorganisation International Crisis Group. Im Interview mit swissinfo.ch spricht Yabi über die verschiedenen Aspekte des Konflikts.

swissinfo.ch: Ist die Intervention Frankreichs in Mali, wie viele sagen, nur eine Verlängerung des Kriegs in Libyen?

Gilles Yabi: Es gibt eine Verbindung zwischen der Eliminierung von Muammar Gaddafi und der Destabilisierung in Nord-Mali, denn ein Teil der Armee und der Kämpfer, die im vergangenen Jahr am Putsch gegen die Regierung in Bamako beteiligt waren, kamen direkt aus Libyen. Aber die Al Kaida im Islamischen Maghreb (AQMI) war schon seit etwa zehn Jahren in der Region präsent und es wäre falsch, die Destabilisierung Nord-Malis nur auf den Faktor Libyen zu reduzieren.

Die Intervention Frankreichs erfolgt zudem in einem anderen regionalen und internationalen politischen Kontext. In Libyen hatte Frankreich unter einem NATO-Mandat interveniert, aber ohne Unterstützung aus Afrika. In Mali hat Frankreich hingegen eine klare regionale Unterstützung, und zwar die der Gemeinschaft der Westafrikanischen Staaten (ECOWAS).

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Die “blauen Männer” der Wüste

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der swissinfo.ch-Fotograf Thomas Kern hat die Tuareg im Norden Malis in den Jahren 2001 bis 2004 besucht, also vor der Zeit, in der die der radikalen Islamisten die Region bevölkerten.

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swissinfo.ch: Über wie viel militärische Macht verfügen die “Terroristen”, gegen die sich der Einsatz Frankreichs richtet?

G.Y.: In den ersten Tagen der Intervention zeigten sich gewisse französische Militärs überrascht vom Niveau der Ausrüstung und der Entschlossenheit der islamistischen Kämpfer, die schwer bewaffnet waren und über bedeutende Mengen von geländegängigen Pick-Ups verfügten. Dank seinem Vorteil bei den Luftangriffen konnte Frankreich die islamistische Offensive rasch zurückschlagen.

Doch nun droht das Ganze komplizierter zu werden. Wahrscheinlich werden die Rebellen nun zur Taktik greifen, sich in sehr schwer zugängliche Orte zurückzuziehen. Sie aus den Wüsten- und unzugänglichen Bergregionen im Norden Malis vertreiben zu wollen, wird sehr gefährlich werden.

swissinfo.ch: Was sind die tatsächlichen Beweggründe der islamistischen Gruppen, die in Nord-Mali Terror verbreiten?

G.Y.: Die Logik der Kämpfer ist oft opportunistisch. Für viele Teile der Bevölkerung im Norden Malis ist ein Engagement in bewaffneten Gruppen oft die einzige Einnahmequelle.

Und die Führer, die vermengen ideologische und dschihadistische Dimensionen mit persönlicher Bereicherung. So gibt es direkte Verbindungen der AQMI zu Netzwerken des organisierten Verbrechens. Zudem sind die islamistischen Gruppen teilweise stark verankert in den lokalen Gemeinden und der lokalen Wirtschaft. Deshalb wird es sehr schwierig werden, sie zu isolieren.

Der radikale Islamismus der Gruppen, gegen die sich der französische Militäreinsatz in Mali richtet, sei “in Wirklichkeit theatralisch und dient als Paravent für eine effektive politische Ökonomie des Terrorismus” schätzt Mohammad Mohamedou, Gastprofessor am Genfer Hochschul-Institut für Internationale Studien und Entwicklung (IHEID) und Direktor des regionalen Programms Nordafrika/Naher Osten am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik.

Mohammad Mohamedou ist auf neue Formen eines globalisierten und entpolitisierten Terrorismus gestossen, der sich einen religiösen Anstrich gibt, um seine schändlichen Aktivitäten zu maskieren. Wie die Geiselnahme auf einem Gasfeld in Algerien, die in einem Blutbad endete, bewiesen habe, “ist das charakteristische Merkmal dieser neuen, transnationalen Gruppen, an mehreren Fronten gleichzeitig zu agieren.” Sie generierten so eine Stärke, die über ihre tatsächlichen Kapazitäten hinausgehe.

Diese neue Ausgangslage spiegle sich in einer Multiplikation grossen Ausmasses im Handel mit Drogen, Waffen, Treibstoff und Geiseln. Das sei der Fall in der Sahelzone, aber auch im Niger-Delta, vor der Küste Somalias sowie im Norden Mexikos, erläutert der Professor.

Zudem betrachtet der ehemalige mauretanische Minister den Sturz Gaddafis als Ausgangspunkt der Destabilisierung in Nord-Mali. Verschiedene Faktoren seien zusammengekommen: “Die Rückkehr kampferprobter Tuareg, die Verfügbarkeit der geplünderten Waffen aus den Lagern, die Gaddafi Ende Februar 2011 geöffnet hatte. Dazu kam, dass die staatliche Unruhe in Mali für die radikalen bewaffneten Gruppen ein Segen war, sie konnten viel einfacher durch die Region ziehen als in der Vergangenheit.”

swissinfo.ch: Wird die französische Militärintervention ausreichen, diese neue Krisenregion der Welt zu sichern?

G.Y.: Es ist sicherlich notwendig, die terroristischen Gruppen zu bekämpfen, die eine echte Bedrohung sind, aber diese Intervention droht auch, die Wirtschaft und den Zusammenhalt des Landes auf lange Sicht noch mehr zu gefährden. Wenn die Bevölkerung weiter verarmt, fördert dies die Fortdauer der Gewalt in Mali.

Die Krise in Mali ist äusserst komplex und Frankreichs Militärintervention hat die Tendenz, alle anderen Dimensionen des Konflikts zu vernebeln.

swissinfo.ch: Ist das Schicksal der Tuareg ein Schlüssel zur Lösung der Krise?

G.Y.: Historisch betrachtet hat Bamako sich immer schwer damit getan, die Territorien im Norden des Landes zu verwalten und auf die Bedürfnisse der dortigen Bevölkerungen einzugehen. Die Frage der Tuareg, die auf die Zeit der Unabhängigkeit des Landes zurück geht, muss eines Tages auf den Tisch kommen. Der Miteinbezug der Tuareg, aber auch der anderen Gemeinschaften Nord-Malis in Pläne zur Sanierung des Staates und der Neudefinition des Regierungssystems in dieser Region ist daher unerlässlich.

swissinfo.ch: Welche Verantwortung trägt die Regierung Malis in dieser Krise?

G.Y.: Die Kriminalisierung des Staates ist ein weiterer wichtiger Faktor, der die Destabilisierung Malis erklärt. Lange hat man den Prozess der Demokratisierung mit der Konsolidierung des Staates verwechselt, was zwei sehr unterschiedliche Dinge sind.

Es braucht eine vertiefte Reflexion über das politische System Malis. Und man muss sich in erster Linie daran machen, wieder eine effiziente Armee sowie politische und militärische Kräfte aufzubauen, die nicht selber in jene Arten von Handel verwickelt sind.

swissinfo.ch: Welche Rolle kommt Algerien mit Blick auf eine künftige Stabilität in der Region zu?

G.Y.: Algerien hat aufgrund seiner geografischen Position eine zentrale Rolle zu spielen. Zudem sind die Führer der AGMI vor allem Algerier. Mittel- und langfristig hängt die Sicherheit Nord-Malis von Algerien ab und von den Beziehungen zwischen Algerien und Mali. Allerdings hat die Position Algeriens als zentraler Vermittler in der Region gelitten, da sich das Land gegen seinen Willen auf Seite der französischen Intervention stellen musste.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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