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Philippe Currat: “Eine Verurteilung Putins ist Wunschdenken”

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Corinna Staffe

Kann Wladimir Putin für Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden, die russische Soldaten in der Ukraine begangen haben? Der Genfer Anwalt Philippe Currat ist skeptisch.

Der Rechtsanwalt Philippe Currat ist Autor der Dissertation “Les crimes contre l’humanité dans les statuts de la Cour Pénale Internationale” (Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Statuten des Internationalen StrafgerichtshofsExterner Link).

Philippe Currat
Philippe Currat meint: “Die einzige Lösung, um heute Wladimir Putin oder Sergej Lawrow strafrechtlich verfolgen zu können, ist, dass sie ihre Ämter nicht mehr ausüben würden.” ldd

Im Jahr 2005 setzte ihn das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten als leitenden Rechtsberater des Staatsanwalts des Sondergerichtshofs für Sierra Leone ein.

Er vertrat die International Criminal Bar bei den Versammlungen der Vertragstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), vor allem im Jahr 2010 bei der Konferenz zur Überprüfung des Römischen Statuts. Von 2012 bis 2017 war er dessen Generalsekretär.

Currat steht auf der Liste der Beraterinnen und Berater, die zur Vertretung vor dem Internationalen Strafgerichtshof zugelassen sind.

swissinfo.ch: Ist die Immunität für Staatsoberhäupter in diesem Fall überhaupt anwendbar?

Philippe Currat: Eines vorweg: Es wird erwogen, Wladimir Putin rechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Als Staatsoberhaupt ist er verständlicherweise das Ziel der Strafverfolgung. Er hat die Entscheidungsgewalt, also wird er als verantwortlich für alles angesehen.

Doch ich halte das für Wunschdenken. Führungspersonen auf niedrigerer Hierarchiestufe könnte man viel effektiver erreichen. Aber lassen Sie uns trotzdem mal von dieser Idee ausgehen.

Wladimir Putin und Sergei Schoigu
Der russische Präsident Wladimir Putin besucht am 20. Oktober 2022 mit dem russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu ein militärisches Ausbildungszentrum. Sputnik

Das Statut des IStGH sieht vor, dass es keine Immunität für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gibt.

Jene Staaten, die das Römische Statut ratifiziert haben, erklären sich daher bereit, auf diese gewohnheitsrechtliche Immunität für ihre höchsten Behörden zu verzichten.

Da es sich um eine Ausnahme handelt, gilt sie restriktiv und nur für Staaten, die dem Immunitätsverzicht zugestimmt haben. Die Staaten können zudem nur über die Immunität der eigenen Behörden entscheiden.

Der IStGH kann demnach nur Staats- und Regierungschefs oder Aussenbeauftragte von Ländern strafrechtlich verfolgen, die Vertragsparteien des Römischen Statuts sind.

Die Frage, ob die Immunität auch für das Oberhaupt eines Staats gilt, der nicht Vertragspartei ist, wenn der Sicherheitsrat eine Situation an den IStGH überträgt, bleibt umstritten. Der einzige Fall, in dem dies vorkam, war der Sudan mit einer Anklageschrift gegen den damaligen Präsidenten Omar al-Baschir.

Liegt es daran, dass der Sicherheitsrat auf die Situation im Sudan hingewiesen hat, ohne die Personen zu nennen, die strafrechtlich verfolgt werden sollen?

In der Tat ist die Resolution des Sicherheitsrats nicht auf eine Person ausgerichtet, sondern auf alle in Darfur begangenen Handlungen. Der Sicherheitsrat nennt keine konkreten Personen und sagt nichts über die Immunität.

Kann man davon ausgehen, dass die Immunität gilt oder nicht? Die Frage wird in Bezug auf die Darfur-Problematik für immer offen bleiben, da Omar al-Baschir seine Macht verloren hat, bevor er vor Gericht gestellt wurde.

Sobald eine Person nicht mehr Staatsoberhaupt, Regierungschef oder Aussenbeauftragte ist, kann sie strafrechtlich verfolgt werden. Auch für Handlungen, die sie während der Ausübung ihres Amts begangen hat.

Die einzige Lösung, um heute Wladimir Putin oder beispielsweise [Aussenminister] Sergej Lawrow strafrechtlich verfolgen zu können, ist also, dass sie ihre Ämter nicht mehr ausüben würden.

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Es ist also unwahrscheinlich, dass Putin in naher Zukunft vor Gericht gestellt wird?

Jahrelang wurde uns im Fall von Slobodan Milosevic [ehemaliger serbischer und jugoslawischer Präsident] gesagt: “Unmöglich, den kriegt ihr nie!”

Aber eines Tages verlor er die Macht, wurde verhaftet, an den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien überstellt und vor Gericht gestellt. Es ist also möglich.

Hier sollte man den Standpunkt eines Strafrechtlers, eines Ermittlers in Strafsachen einnehmen und nicht den politischen Standpunkt “Ich will Putin vor Gericht stellen”. Denn wenn wir uns auf Putin konzentrieren, was machen wir dann mit ihm?

Was wirft man ihm aufgrund seiner strafrechtlichen Verantwortung vor, nicht aufgrund seiner politischen oder moralischen Verantwortung? Er war nie selbst im Einsatz, um Zivilpersonen zu erschiessen, eine Frau zu vergewaltigen oder irgendein anderes Verbrechen zu begehen.

Adolf Hitler hat selbst nie eine Gaskammer in Betrieb genommen. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass er die Schlüsselfigur des Holocaust war. Ist es möglich, dass Staatsoberhäupter unerreichbar bleiben?

Hitler beging Suizid und entging so der Verfolgung. Das ist die Frage hinter den Befehlshabenden, die andere Formen der strafrechtlichen Verantwortung tragen als die direkten Täter und Täterinnen. Man muss eine Reihe von Beweismitteln vorlegen, um sie anzuklagen und gegebenenfalls zu verurteilen.

Aber so fragwürdig es ist, nur die Ausführenden zu verurteilen und die Führungspersonen unbehelligt zu lassen, so fragwürdig ist es auch, nur die Führungspersonen zu verurteilen, ohne die Ausführenden zu belangen.

Entscheidend wird sein, die Fakten zu ermitteln. Die Rakete, die auf eine Schule, eine Entbindungsstation, ein Krankenhaus fiel und Zivilpersonen tötete: Von dieser Rakete, die diese Schäden verursachte, die wir dokumentieren können, werden wir feststellen müssen, von wo sie abgefeuert wurde.

Überreste einer Streubombe
Überreste einer verbotenen Streubombe in der Region Charkiw. Keystone / Maria Senovilla

Von da aus kann man erfahren, wer sie gestartet hat. Und von dem Moment an, in dem man die dafür verantwortliche Einheit identifiziert hat, kann man die Befehlskette darüber identifizieren.

Dann muss man sehen, wie hoch man hinaufkommt, um die vorgesetzte Person möglicherweise strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Das hängt auch davon ab, wie viele Beweise Sie sammeln können. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord sind äusserst komplexe Straftaten. Sie verursachen zwar eine grosse Anzahl von Opfern.

Aber es wird oft vergessen, dass sie das Ergebnis einer grossen Anzahl von Handlungen sind, die von einer grossen Anzahl von Personen begangen wurden.

Deshalb ist es so komplex, die individuelle strafrechtliche Verantwortung jedes potenziellen Straftäters in Verbindung mit jeder Tat, jedem Opfer zu ermitteln.

Wie sieht es mit dem Straftatbestand des Völkermords aus?

Um Völkermord zu begehen, muss die Absicht nachgewiesen werden, eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zerstören zu wollen. Ohne diesen Kontext gibt es keinen Völkermord, unabhängig davon, wie viele Menschen getötet wurden.

Seit Beginn der Invasion fordert die Ukraine die Einrichtung eines Sondergerichtshofs, der über russische Verbrechen und die Verantwortlichen für den Krieg urteilen soll. Ist das denkbar?

Die Ukraine hat den IStGH bereits 2013 angerufen und dessen Zuständigkeit anerkannt. Und erst vor kurzer Zeit hat sie die Schaffung eines neuen Gerichts gefordert. Ich persönlich bin nicht für die Schaffung eines solchen Gremiums.

Mit der Schaffung des IStGH wollte man einen anderen Ansatz verfolgen: Verhindern, dass weiterhin nachträglich Ad-hoc-Gerichte für einen bestimmten Konflikt geschaffen werden. Denn dies untergräbt die Legitimität des Gremiums.

Die Schaffung einer neuen Gerichtsbarkeit ist nicht nur eine politische, sondern auch eine finanzielle Frage: Jedes Mal, wenn man eine spezifische Instanz schafft, muss man sie mit Gebäuden und Personal ausstatten, ihr ein Budget und die Mittel zur Durchführung ihrer Ermittlungen und Prozesse zur Verfügung stellen. All das ist ausserordentlich kostspielig.

Abgesehen vom Ankündigungseffekt bin ich mir nicht sicher, ob die Staaten bereit sind, eine solche Institution zu finanzieren. Es gibt bereits eine, den ständigen und universellen IStGH, der bereits mit seinen Untersuchungen begonnenExterner Link hat.

Ausserdem sehe ich nicht, wie man rechtlich gesehen eine neue Instanz schaffen könnte, die dazu berufen wäre, über Handlungen zu urteilen, die in der Ukraine von russischen Soldaten oder russischen Agenten ohne die Zustimmung Russlands begangen wurden. Das ist eine Frage der Souveränität.

Exhumierungsarbeiten
Mitarbeitende der ukrainischen Staatsanwaltschaft für Kriegsverbrechen bei Exhumierungsarbeiten auf dem Friedhof von Izyum in der ukrainischen Region Charkiw am 22. September 2022. Keystone / Oleg Petrasyuk

Dies scheint mir die falsche gute Idee zu sein, die zu weiteren Schwierigkeiten führen wird. Denn es gibt bereits die primäre Zuständigkeit der sehr aktiven nationalen ukrainischen Gerichte, eine universelle Zuständigkeit jedes anderen Landes, eine internationale Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs.

Zudem existieren eine Reihe anderer Ermittlungsorgane, die von Drittstaaten in Zusammenarbeit mit den ukrainischen Behörden eingerichtet wurden. Sowie europäische Organe wie Eurojust, die ebenfalls tätig werden. Wenn noch ein weiterer zusätzlicher Beteiligter hinzukommt, droht die Verwirrung komplett zu werden.

Moskau ist der Ansicht, dass die Schweiz bei der Umsetzung der Sanktionen gegen Russland nicht neutral geblieben ist. Was sagen Sie dazu?

Die Schweizer Neutralität besteht auch heute noch. Sie hat eine humanitäre und friedliche Ausrichtung und dient der Friedenserhaltung.

Die Neutralität kann nicht als Verzicht auf die Durchsetzung des Völkerrechts und die Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit in einem so klaren Fall von Aggression verstanden werden. Keine Partei zwischen Aggressor und Opfer zu ergreifen, bedeutet, den Aggressor zu begünstigen.

Sich den Sanktionen anzuschliessen, die von europäischen Instanzen und auf globaler Ebene von den Vereinten Nationen gegen Russland verhängt wurden, ist keine Aufgabe der Neutralität, sondern ihr Ausdruck zugunsten des Friedens und des Rechts.

Zu sagen, dass die Schweiz aus diesem Grund keine neutrale und unparteiische Gesprächspartnerin mehr sei, ist eine politische Positionierung, eine Haltung. Sie entspricht aber nicht der Realität.

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Editiert von Balz Rigendinger. Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

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