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Roberto Balzaretti: “Wir wollten Frankreich nicht beleidigen”

Roberto Balzaretti auf dem E-Bike am Genfersee
Der Schweizer Botschafter in Frankreich Roberto Balzaretti im März 2022 auf dem E-Bike am Genfersee während der ersten Etappe seines Projekts "Unterwegs mit der Schweiz". © Keystone / Salvatore Di Nolfi

Die französisch-schweizerischen Beziehungen waren im vergangenen Jahr von einigen Turbulenzen geprägt. Besonders der Entscheid der Schweiz, den französischen Kampfjet Rafale nicht zu kaufen, sorgte für Misstöne. Der Schweizer Botschafter in Frankreich, Roberto Balzaretti versichert, dass "diese Episode nun hinter uns liegt".

Zuerst überraschte die Schweiz mit dem Entscheid, das Rahmenabkommen mit der EU zu beerdigen, dann doppelte die Regierung nach, indem sie sich gegen den Kauf von französischen Kampfflugzeugen entschied. In den französisch-schweizerischen Beziehungen haben sich vor kurzem erneut Spannungen eingeschlichen.

Der Schweizer Botschafter in Frankreich, Roberto Balzaretti, ist jedoch der Ansicht, dass die beiden Länder nach wie vor gute Beziehungen unterhalten. Er beobachtet diese starken Bindungen zwischen den Nachbarn, indem er mit dem Elektrovelo durch Frankreich fährt.

Roberto Balzaretti
Roberto Balzaretti wurde 1965 im Kanton Tessin geboren und trat im Dezember 2020 sein Amt als Botschafter in Frankreich an. Bevor er sein Quartier in Paris bezog, war er unter anderem Generalsekretär des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten sowie Botschafter und Leiter der Schweizer Mission bei der EU in Brüssel. Im November 2018 hatte er als Staatssekretär für das Europadossier den Entwurf für das institutionelle Rahmenabkommen mit der Europäischen Union finalisiert. © Keystone / Salvatore Di Nolfi

swissinfo.ch: Diesen Frühling haben Sie das Projekt “En route avec la Suisse”Externer Link gestartet. Sie fahren in zwölf mehrtägigen Etappen, verteilt über zwei Jahre, mit einem elektrisch unterstützten Fahrrad auf den Strassen Frankreichs. Was erhoffen Sie sich von diesem Projekt?

Roberto Balzaretti: Das Ziel besteht vor allem darin, französisch-schweizerische Initiativen zu entdecken, Schweizerinnen und Schweizer zu treffen, die in Frankreich aktiv sind und mit ihrem Engagement die beiden Länder voranbringen.

Das kann eine Winzerin sein, ein Unternehmer, ein Käseimporteur, eine Künstlerin oder auch eine Wissenschaftlerin. Die Idee ist, zu zeigen, dass unsere beiden Länder nicht nur geografisch gesehen Nachbarn sind, sondern auch zwei stark miteinander verflochtene soziale und wirtschaftliche Realitäten.

Auf Ihrem E-Bike fahren Sie durch das ländliche Frankreich. Diese ländlichen Gebiete fühlen sich oft vom Staat vernachlässigt und neigen dazu, rechtsextreme Parteien zu wählen. Welche Eindrücke haben Sie von diesen Regionen gewonnen?

Auf den ersten beiden Etappen hatte ich überhaupt nicht das Gefühl, dass es sich um vernachlässigte Gebiete handelt. Wir werden jedoch auch durch weniger privilegierte Gebiete fahren, die als “Diagonale der Leere” bezeichnet werden.

[Die “Diagonale der Leere” ist ein breiter Streifen des französischen Staatsgebiets von der Maas bis zum Departement Landes, wo die Bevölkerungsdichte im Vergleich zum Rest Frankreichs relativ gering ist; die Red.]

Die Urbanisierung und die Konzentration der wirtschaftlichen Ressourcen sind nicht nur ein Problem in Frankreich, sondern auch in der Schweiz. Wir dürfen nicht vergessen, dass der wirtschaftliche Aufschwung nicht auf Kosten von weniger zentral gelegenen Gebieten wie den Bergregionen oder den Tälern in der Schweiz gehen darf.

Dennoch bin ich ein Reisender, der beobachtet, ohne zu urteilen. Ich versuche auch zu sehen, wo die Gemeinsamkeiten und Möglichkeiten liegen. Wir können das Bindeglied zwischen der französischen Realität und den Schweizer Unternehmen sein, und umgekehrt ebenso. Auch das ist das Ziel des Projekts.

>> In diesem Video erklärt Balzaretti sein Projekt (Franz.):

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Apropos Bindeglied: In Umfragen fordern die französischen Wählerinnen und Wähler oft, dass häufiger Volksabstimmungen durchgeführt werden. Wäre das Frankreich von Emmanuel Macron bereit, Abstimmungen wie in der Schweiz einzuführen?

Diese Frage sollten Sie den französischen Behörden stellen. Die Elemente der demokratischen Beteiligung an der Entscheidfindung sind von zentraler Bedeutung, sei es durch direkte Abstimmungen, wie bei uns, oder durch die Wahl von gewählten Abgeordneten, die anschliessend die Entscheide treffen, wie das in Frankreich der Fall ist.

Präsident Emmanuel Macron hat zum Beispiel im Umweltbereich Bürgerinitiativen gefördert, Gruppen von Menschen, die nachdenken und Vorschläge machen. Das Schweizer System ist jedoch sehr speziell, und man kann nicht einfach ein Element der direkten Demokratie nehmen und es in ein parlamentarisches System integrieren. Das ist nicht so einfach, wie es klingt.

Stattdessen muss man Entscheide treffen, die nahe an dem liegen, was das Volk will. Manchmal muss man die Menschen überzeugen, denn wenn sie nicht einverstanden sind, werden sie entweder das Gesetz nicht richtig anwenden, oder es werden Protestbewegungen entstehen.

Im Juni 2021 beleidigte die Schweiz Frankreich, als sie den Kauf des französischen Kampfflugzeugs Rafale ablehnte und sich stattdessen für den amerikanischen F-35 entschied. Haben sich die diplomatischen Beziehungen seitdem verschlechtert?

Wir wollten Frankreich nicht kränken. Nach der Ausschreibung entschied sich der Bundesrat auf der Grundlage objektiver Kriterien für den Kauf eines amerikanischen Kampfflugzeugs. Unser Evaluierungs-Team stellte fest, dass die F-35 billiger und leistungsfähiger als die Rafale ist, und die Regierung folgte ihm.

Ich kann verstehen, dass der Entscheid für Frankreich schwer zu akzeptieren ist, denn wir haben wichtige wirtschaftliche und soziale Verbindungen und eine Vielzahl von Dossiers, die uns miteinander verbinden.

Angesichts der Breite und Tiefe unserer Beziehungen hätten einige erwartet, dass die Schweiz ein Flugzeug bevorzugen könnte, das von einem Nachbarland produziert wird. Ohne im Namen der französischen Behörden sprechen zu wollen, glaube ich sagen zu können, dass diese Episode nun hinter uns liegt.

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Die Schweiz hat auch das Rahmenabkommen mit der EU begraben, ein Dossier, in dem Sie sich als ehemaliger Staatssekretär für Europafragen engagiert haben. Ist dies mit ein Grund für die diplomatischen Spannungen zwischen Frankreich und der Schweiz?

Es versteht sich von selbst, dass Frankreich als Nachbarland und mit der EU-Ratspräsidentschaft die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU aufmerksam verfolgt. Die EU hat uns gebeten, neue konkrete Vorschläge zu machen, was wir auch getan haben. Diese werden derzeit in den Sondierungsgesprächen diskutiert, die wir mit der EU führen.

Bisher hat unser Austausch gezeigt, dass wir noch unterschiedliche Ansichten darüber haben, wie wir unser gemeinsames Ziel erreichen können, nämlich Abkommen zu haben, die weiterhin funktionieren.

Es liegt im Interesse der Schweiz, der EU und damit auch Frankreichs, neue Abkommen zu haben und unangemessene und kontraproduktive Massnahmen wie die Aussetzung des Forschungsabkommens zu vermeiden. Es ist besser, sich Zeit zu lassen, um eine gute Lösung zu finden, als die Dinge zu überstürzen. Frankreich versteht das.

Man kann also nicht sagen, dass die französisch-schweizerischen Beziehungen auf einem Tiefpunkt angelangt sind?

Nein, wir haben nach wie vor gute Beziehungen zu Frankreich. Die Schwierigkeiten kommen nicht von dort, sondern wegen der Komplexität der Dossiers.

“Dass Teile einiger Abkommen nicht funktionieren, liegt zum Teil an den Massnahmen der Europäischen Union gegen uns.”

Roberto Balzaretti, Schweizer Botschafter in Frankreich

Emmanuel Macron ist ein überzeugter Europäer, und seine Wiederwahl macht ihn wirklich zu einer Führungsfigur der EU. Der Krieg in der Ukraine hat die Länder des alten Kontinents plötzlich näher zusammenrücken lassen. Hat sich die Schweiz mit der Ablehnung des Rahmenabkommens nicht unwiderruflich von Frankreich und ihren Nachbarn entfernt und läuft Gefahr, sich dauerhaft zu isolieren?

Der Entwurf des institutionellen Abkommens war in der Schweizer Innenpolitik nicht mehrheitsfähig. Deshalb beschloss der Bundesrat, an einem anderen Vorschlag zu arbeiten, um den bilateralen Weg zu festigen. Darüber hinaus ist zu betonen, dass die Schweiz mit der europäischen Position zum Krieg in der Ukraine vollkommen solidarisch ist.

Wir sind auch auf derselben Wellenlänge, wenn es um internationale Governance, Rechtsstaatlichkeit, den Schutz von Minderheiten, usw. geht. Ich möchte auch daran erinnern, dass die bilateralen Abkommen, die wir 1999 und 2004 abgeschlossen haben, in Kraft sind und funktionieren: Personen, Waren und Dienstleistungen bewegen sich.

Dass Teile einiger Abkommen nicht funktionieren, liegt zum Teil an den Massnahmen der Europäischen Union gegen uns, die wir für kontraproduktiv halten. Darunter etwa der Entscheid, das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung nicht zu verlängern [ein Abkommen, das den Markt für viele Industrieprodukte öffnet, darunter auch Medizinprodukte; die Red.].

Abgesehen davon funktionieren die Dinge. Die Behauptung, die Schweiz wolle sich von ihren europäischen Nachbarn entfernen, ist daher nicht korrekt. Im Gegenteil, der Vorschlag des Bundesrats für ein “erweitertes Verhandlungspaket” betrifft mehr Bereiche der Zusammenarbeit. Etwa Elektrizität, Gesundheit oder Lebensmittel-Sicherheit.

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Während der Pandemie haben sich die beiden Länder gegenseitig geholfen, besonders durch Austausch. Wie gut funktioniert die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Frankreich in Krisenzeiten?

Sie funktioniert auch ausserhalb einer Krise gut. Aber zu Beginn der Krise war der Reflex aller, sich zurückzuziehen und alles zu schliessen, um zu verstehen, was vor sich ging. Mit Frankreich kam die Zusammenarbeit schnell in Gang.

Vor allem gelang es uns, schnell spezielle Regeln für Grenzgängerinnen und Grenzgänger auszuarbeiten. Es war für beide Länder von grundlegender Bedeutung, in diesem Bereich pragmatische Lösungen zu finden, um zu verhindern, dass die Wirtschaft des einen oder des anderen Lands schweren Schaden nimmt. Unsere guten Beziehungen zu Frankreich haben dies möglich gemacht.

Die Schweiz und Frankreich haben eine gütliche Einigung erzielt, damit Grenzgängerinnen und Grenzgänger, die im Homeoffice arbeiten, weiterhin von den üblichen Sozial- und Steuerregelungen profitieren können. Werden diese langfristig weiterhin davon profitieren können?

Bisher wurde die Vereinbarung bis Ende Juni 2022 verlängert. Dies ist jedoch eines der vorrangigen Themen, mit denen wir uns befassen müssen. Es muss uns gelingen, diese Lösung langfristig zu sichern, da die Pandemie die Arbeitswelt rasant verändert hat.

Da der Rechtsrahmen nicht für grenzüberschreitende Homeoffice-Arbeit geeignet ist, denken wir derzeit mit Frankreich über Lösungen nach.

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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