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Kontra-Seite: Ehe für alle schafft neue Ungleichheiten

Mann in den Bergen
Die Ehe für alle werde zu einer Zunahme problematischer Situationen für Kinder mit gleichgeschlechtlichen Eltern führen, befürchtet Ex-Pfarrer Gérard Pella. ldd

Am 26. September wird die Schweiz über die Ehe für alle abstimmen. Die Vorlage sieht unter anderem die Samenspende für lesbische Paare vor. Die evangelische Kirche hat sich zwar für ein Ja ausgesprochen, doch nicht alle Mitglieder finden das gut. Einer von ihnen ist der pensionierte Pfarrer Gérard Pella. Er glaubt, dass das neue Eherecht neue Ungleichheiten schaffen würde.

Während in den meisten west- und nordeuropäischen Ländern bereits heute gleichgeschlechtliche Paare heiraten können, werden die Schweizerinnen und Schweizer am 26. September über diese wichtige gesellschaftliche Veränderung abstimmen.

Im Dezember 2020 stimmte das Parlament einem Entwurf zu, der unter anderem den Zugang zur medizinisch unterstützten Fortpflanzung für lesbische Paare, die erleichterte Einbürgerung des Partners und die gemeinsame Adoption vorsieht.

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Die Adoption des Kindes eines Partners ist bereits seit 2018 erlaubt, aber das Verfahren ist langwierig und kostspielig.

Ein überparteiliches Komitee mit Vertretern zweier rechtsstehender Parteien, der Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU) und der SVP, ergriff das Referendum. Die Gegner stören sich daran, dass die Ehe für alle ohne Verfassungsänderung eingeführt werden soll. Und die Samenspende für Lesben-Paare halten sie für “rechtlich und moralisch bedenklich”. Das Kindeswohl bleibe auf der Strecke, so ihr Argument.

Bisher meldeten sich die Gegner aber kaum zu Wort, im Gegensatz zu den Befürwortern, die ihre Kampagne noch vor der Sommerpause gestartet haben.

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Die Schweiz entscheidet über die Zukunft der Ehe

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Am 26. September entscheidet das Schweizer Stimmvolk, ob es Homosexuellen das Recht auf Heirat und Familiengründung zugestehen will.

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Gérard Pella ist pensionierter Pfarrer im Kanton Waadt. Er bedauert die Haltung seiner Kirche zugunsten der gleichgeschlechtlichen Ehe. Er hatte sich bereits 2012 gegen die Entscheidung der Evangelisch-reformierten Kirche seines Wohnkantons ausgesprochen.

swissinfo.ch: Warum sind Sie gegen die Ehe für alle?

Gérard Pella: Ich habe persönlich nichts gegen Homosexuelle. Ich bin jedoch aus religiösen und ethischen Gründen gegen die gleichgeschlechtliche Ehe. In der Bibel ist das menschliche Paar eindeutig heterosexuell.

Ethisch gesehen versucht das neue Ehegesetz, eine Ungleichheit zu beseitigen, aber es schafft zwei neue. Erstens wird es keine Gleichstellung zwischen Frauen und Männern geben, da Lesben im Gegensatz zu Schwulen Kinder bekommen können.

Die gravierendste Ungerechtigkeit betrifft aber die Kinder weiblicher Paare, die durch medizinisch unterstützte Fortpflanzung gezeugt werden: Sie werden nicht wie andere Kinder das Recht auf eine Mutter und einen Vater haben.

In der Schweiz leben bereits Tausende von Kindern in gleichgeschlechtlichen Familien. Mit der Ehe für alle hätten sie den gleichen rechtlichen Rahmen wie Kinder, die in heterosexuellen Familien leben. Wären sie auf diese Weise nicht besser geschützt?

Ich denke, das kreiert nur Probleme. Adoptierte Kinder haben es oft schwierig. Sie machen Krisen durch, in denen sie wissen wollen, wer der biologische Vater oder die biologische Mutter ist. Diese Schwierigkeiten wird es auch und vielleicht noch ausgeprägter in Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern geben.

Da die anonyme Spende in der Schweiz verboten ist, können Kinder im Alter von 18 Jahren die Identität ihres Spenders erfahren, wenn sie dies möchten. Ist damit nicht gewährleistet, dass das Kind wissen kann, wer sein Erzeuger ist?

Die Kinder erhalten eine technische Antwort auf eine sehr emotionale Frage. Ausserdem ist ein Samenspender nicht dasselbe wie ein biologischer Vater.

Heutzutage wachsen viele Kinder heterosexueller Eltern auch mit nur einem Elternteil auf. Ist die Situation nicht ähnlich?

Bei solchen Familienkonstellationen gab es zu Beginn meist mehr als einen Samenspender. Die Situation ist zwar nicht ganz dieselbe, aber natürlich ebenfalls problematisch, und mit dem neuen Gesetz würden sich solche Fälle noch häufen.

Die evangelische Kirche hat sich für die Ehe für alle ausgesprochen. Warum teilen Sie den Standpunkt Ihrer Kirche nicht?

Meine Kirche respektiert eine Vielfalt von Meinungen und Überzeugungen, genau wie ich. Die Mehrheit hat sich für die Ehe für alle ausgesprochen – ich bin halt anderer Meinung.

Beim Start der Kampagne sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter, dass der Staat den Menschen nicht vorschreiben sollte, wie sie ihr Privat- und Familienleben gestalten. Ist das für Sie nicht ein legitimes Argument?

Ja, der Staat bietet einen Rahmen, der alle schützt. Ich finde das gut. Als Bürger können wir dann entscheiden, was wir für richtig halten.

80% der Schweizerinnen und Schweizer sind für die Ehe für alle. Das hat eine Umfrage von Pink Cross im Jahr 2020 ergeben. Haben die Gegner überhaupt eine Chance, ihre Argumente vorzubringen?

Ich denke schon, dass die Gegnerschaft die Schweiz überzeugen könnte. Ich stelle jedoch fest, dass sie momentan sehr ruhig ist, was mir schon Sorgen bereitet. Das Problem ist, dass es sehr schwierig ist, sich gegen die Ehe für alle auszusprechen. Das ist auch in unserer Kirche der Fall. Unsere Haltung gilt nicht als “politisch korrekt”. Es könnte aber durchaus sein, dass ein schweigender Teil des Stimmvolkes am 26. September ein Nein in die Wahlurne legen wird.

In den meisten europäischen Ländern können gleichgeschlechtliche Paare seit längerem heiraten. Kann die Schweiz in dieser Frage isoliert bleiben?

Ich denke schon. Dies wäre nicht das erste Mal, dass die Schweiz ihren eigenen Weg wählt.

Angenommen, es gibt ein Ja zur Ehe für alle. Erwarten Sie eine Protestbewegung wie in Frankreich?

Erstens glaube ich das nicht, denn die Schweizer können im Gegensatz zu den Franzosen direkt abstimmen. Zweitens sollte der Wille des Volkes respektiert werden. Ich finde es einfach wichtig, die Debatte zu führen.

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