Schweizer Dokfilme über das Leben mit psychischer Erkrankung
Mit "I Love You, I Leave You" und "Semikolon" sind fast gleichzeitig zwei Schweizer Dokumentarfilme in den Kinos zu sehen, die Menschen in psychischen Extremsituationen begleiten. Die Frage nach Nähe und Distanz stand für beide Regisseure im Zentrum ihrer Arbeit.
(Keystone-SDA) Moris Freiburghaus erzählt in «I Love You, I Leave You» von der bipolaren Erkrankung seines besten Freundes, des Musikers Dino Brandão. Sein Werk wurde eben am Zurich Film Festival mit dem Goldenen Auge im Dokumentarfilm-Wettbewerb ausgezeichnet. Zudem holte der Film den Publikumspreis. Und am (heutigen) Donnerstag startet er in den Kinos.
Saschko Steven Schmid begleitet in «Semikolon – Schizophrenie für immer» (Kinostart 17.11.) Hermann in seine Welt, die geprägt ist von Stimmen und Wahnvorstellungen und damit auch von Ängsten.
Gleich zwei Schweizer Dokumentarfilme beschäftigen sich persönlich und intensiv mit psychischen Erkrankungen. Mit «Bilder im Kopf» von Eleonora Camizzi lief eben ein weiteres Werk in den Kinos, das von der Auseinandersetzung mit Schizophrenie berichtet.
Unterschiedliche Herangehensweisen
Als Moris Freiburghaus‘ Freund 2023 zum zweiten Mal mit einer manisch-psychotischen Episode in eine Klinik eingewiesen worden sei, habe er eine Nachricht von ihm erhalten, erzählt der Regisseur der Nachrichtenagentur Keystone-SDA: «Es wird Zeit für Teil zwei.» Bereits zehn Jahre zuvor hatten die beiden einen ersten Klinikaufenthalt von Brandão in einem Kurzfilm aufgearbeitet. Freiburghaus besuchte seinen Freund in der Klinik, doch erst nach einem weiteren Schub beschlossen seine Familie und Freiburghaus, diese Akutphase filmisch zu dokumentieren.
Bei Saschko Steven Schmid stand am Anfang seiner Arbeit an «Semikolon» eine Liste, sagt er. «Ich führe eine solche mit Ideen, die für mich als mögliche Projekte in Frage kommen. Das Thema Schizophrenie stand auf der Liste, weil ich vor einigen Jahren für einen TV-Beitrag kurz mit einer betroffenen Person zusammengearbeitet habe. Diese Begegnung hat mich tief beeindruckt.» Schmid hat Kliniken und Ärzte angeschrieben, um jemanden zu finden. Es vergingen drei oder vier Monate, bis er einen Anruf von Hermann erhalten hat. «Die eigentliche Vorbereitung besteht dann darin, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen», so Schmid.
Am meisten habe ihn die Frage interessiert, was Schizophrenie eigentlich ist – nicht nur aus medizinischer Sicht, sondern vor allem, wie man eine solche Krankheit persönlich erlebt. Und: «Mich fasziniert, wie Menschen mit einer Krankheit umgehen, die nach aussen oft unsichtbar bleibt. Wie lebt man mit etwas, das andere nicht sehen, nicht greifen können, das aber das eigene Leben so stark prägt?», fragt sich Schmid.
Der Freund im Zentrum
Für Freiburghaus stand sein Freund Dino im Zentrum und die Frage nach seinem eigenen Handeln als Angehöriger. Man entwickle ein Gefühl, wann man in Ausnahmesituationen filmen könne und wann es Pausen brauche. «Die Akutphase war eine massive Belastung für mich. Irgendwann musste ich mich zurückziehen, um mich selbst nicht zu überfordern.» Mitten im Filmen gäbe es für ihn keine professionelle Distanz. «Ich bin in erster Linie Angehöriger. Ich reagiere situativ.»
Es sei ein Grenzgang, einen Menschen in einem solchen Zustand zu dokumentieren. «In einer manischen Phase, vor allem dann auch im psychotischen Zustand, offenbart ein Mensch sehr viel von sich selbst. Auch Grössenwahn, Selbstüberschätzung und Beleidigungen sind Teil davon. Während der vierjährigen Arbeiten habe er Dino jeden Monat zweimal gefragt, ob er sich wirklich sicher sei, mit dieser Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. «In allen Phasen, auch in den depressiven, hat er stets überzeugend mit ‚Ja‘ geantwortet.»
Die professionelle Distanz erlange Freiburghaus erst wieder in der Schnittphase – die dann auch sehr aufwendig gewesen sei. Ein Hauptteil dieser Arbeit sei gewesen, das richtige Mass zu finden, um den beteiligten Menschen gerecht zu werden. Schliesslich wurde das Material von 240 auf 90 Minuten geschnitten.
Die Kamera als Schutzschild
Für Schmid ist die Kamera nicht nur ein Werkzeug, sondern auch eine Art Schutzschild. «Sie schafft eine notwendige Distanz zwischen mir und den Eindrücken, die ich während der Dreharbeiten sammle. Durch den Sucher zu blicken, hilft mir, das Erlebte ein Stück weit zu ordnen und zu verarbeiten, anstatt völlig darin aufzugehen», sagt er.
Auch sein Projekt stand vor zahlreichen Schwierigkeiten. Eine der grössten bestand darin, dass der gesamte Film anonym gedreht werden musste – ohne das Gesicht der Hauptperson zu zeigen. «Zusätzlich durfte ich die Originalstimme nicht verwenden, was die Umsetzung noch komplexer machte», sagt der Regisseur. Diese Einschränkungen hätten ihn sowohl gestalterisch als auch erzählerisch stark gefordert. Am Ende hat ihn das Ergebnis selbst überrascht: «Trotz – oder vielleicht gerade wegen – dieser Grenzen ist ein Film entstanden, der eine besondere Nähe entwickelt. Die Anonymität hat den Blick geschärft für das Wesentliche.»
«Der Film steht für unsere Freundschaft, in all seiner Tiefe», sagt Freiburghaus. Er freue sich nun darauf, sich mit Menschen auszutauschen, die vielleicht Ähnliches erlebt hätten. «Ich sehe den Film als Diskussionsanreger.»
Schmid ergänzt: «Schön wäre es, wenn Menschen mit psychischen Erkrankungen durch Hermanns Geschichte neue Hoffnung schöpfen könnten.» Als Filmemacher wünsche er sich zudem, dass der Film die Menschen dazu bewegt, wieder mehr zuzuhören – aufmerksam, offen und ohne Vorurteile. «Denn genau das geht in unserer schnelllebigen Zeit leider viel zu oft verloren.»*
*Dieser Text von Rapahel Amstutz, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.