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Sterbehilfe gibt weiterhin zu reden

Passive Hilfe zum Selbstmord ist in der Schweiz erlaubt. Keystone

Die Entscheidung der Regierung, kein Euthanasie-Gesetz zu machen, ruft in der Presse und bei den meisten Parteien lebhafte und meist negative Reaktionen hervor.

Für den Bundesrat reicht die derzeitige Gesetzgebung aus, sofern sie mit Nachdruck angewendet wird.

Die Entscheidung des Bundesrates, zum Thema Sterbehilfe keine neue Entscheidung zu treffen, ist umstritten.

Für die Neue Luzerner Zeitung ist es “verständlich, aber feige”, dass der Bundesrat sich am heiklen Thema der Sterbehilfe nicht die Finger verbrennen wolle. Nun müsse das Parlament aktiv werden. “Sonst bleibt das ungute Gefühl, dass der Staat in einer seiner Kernaufgaben kapituliert hat.”

Der Blick hofft, dass Blochers Ermahnung an die kantonalen Strafverfolgungsbehörden Gehör findet, “Missbrauch von Sterbehilfe auch tatsächlich zu verfolgen. Besonders angesichts des zunehmenden Sterbetourismus und zweifelhafter Praktiken gewisser Sterbehilfe-Organisationen.”

Für den Bund braucht es bei der Beihilfe zum Suizid jedoch klare Regeln und unabhängige Kontrollen. “Denn die liberale Haltung bei der Sterbehilfe darf nicht dazu führen, dass der Tod zu einer Handelsware verkommt.”

Der Bundesrat rechtfertige sein Nichtstun damit, dass er der Sterbehilfe nicht Vorschub leisten wolle. Er unterstütze aber damit nur jene Leute, “bei denen der Profit im Vordergrund steht und nicht die seriöse Arbeit der Sterbehilfe”.

Spitz formuliert es Le Temps: “Um heikle Entscheidungen zu vermeiden, beschränkt sich der Bundesrat seit einiger Zeit darauf, keine Entscheidungen mehr zu fällen.” Denn nach der Sache mit den Kampfhunden, die er an die Kantone weitergegeben habe, wiederhole er nun dieses Vorgehen bei der Beihilfe zum Suizid.

Anders sieht es die Liberté: “Selbstmord kann man nur bedauern und alles dafür tun, ihn zu verhindern. Aber es ist eine persönliche Entscheidung einer Person, einer der allerletzten Ausdrücke ihrer Freiheit.”

Müsse denn der Staat auch die letzte Entscheidung reglementieren? “Was müssten denn die Beamten tun? Die Hygiene der Sterbekammer, die Qualität des Gifts, die Endabrechnung prüfen? Wahnsinn!”

Politische Parteien mehrheitlich unzufrieden

Auch die Parteien sparen nicht mit Kritik. Die Sozialdemokratische Partei (SP), die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) und die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) werfen der Regierung vor, sie setze sich über das Parlament hinweg. Die FDP will deshalb in der Sommersession im Juni eine parlamentarische Initiative einreichen.

Zufrieden ist einzig die Schweizerische Volkspartei (SVP). Die Partei lehne Sterbehilfe grundsätzlich ab und wolle deshalb nicht, dass bestimmte Formen zugelassen würden, sagte Sprecher Roman Jäggi.

Auf Blochers Linie

Mit seinem Entscheid folgte der Bundesrat am Mittwoch Bundesrat Christoph Blocher. Dessen Justizdepartement (EJPD) war in einem Bericht zum Schluss gekommen, das geltende Recht genüge, um Missbräuche bei der Sterbehilfe zu verhindern.

Um Gesetzeslücken zu schliessen, hatte die Rechtskommission des Ständerats eine Motion ausgearbeitet, die den Bundesrat aufforderte, neue Gesetze auszuarbeiten. Der Vorstoss wurde im Juni 2003 von der kleinen und im März 2004 von der grossen Kammer überwiesen.

Der Bundesrat sei jedoch zum Schluss gekommen, dass neue Gesetze nicht nötig seien, sagte Blocher. Allgemeingültige Regelungen würden gerade die kritischen Fragen, die sich im Einzelfall stellten, nicht erfassen. Sie hätten deshalb keinen praktischen Nutzen.

Blochers Justizdepartement schlägt deshalb in seinem Bericht zuhanden des Bundesrats einen anderen Weg vor: Die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften eigneten sich weitaus besser, um diese Fragen zu regeln.

swissinfo und Agenturen

Die Schweiz ist in Bezug auf Sterbehilfe eines der liberalsten Länder Europas. Nur die Niederlande und Belgien erlauben unter gewissen Bedingungen die aktive Sterbehilfe (ausgeführt durch eine Zweitperson).

In der Schweiz wird die direkte, aktive Euthanasie wie ein Mord betrachtet, ist also strafbar.

Die indirekte Sterbehilfe (die Verabreichung von starken Schmerzmitteln, die Lebensdauer des Patienten verkürzen könnten) ist dagegen erlaubt.

Die passive Sterbehilfe, das Abstellen lebenserhaltender Maschinen, ist erlaubt.

Die passive Hilfe zum Selbstmord (der Patient wird begleitet, er nimmt die tödliche Dosis selbst ein) ist erlaubt.

Die Beihilfe zum Selbstmord und der so genannte “Sterbetourismus” haben in den letzten Jahren in der Schweiz zugenommen.
Im Jahr 2003 sind in der Schweiz 272 Personen mit Beihilfe zum Suizid aus dem Leben geschieden, ein Drittel von ihnen kamen aus dem Ausland.
Diese Zahl steht für einen Fünftel der in diesem Jahr registrierten Selbstmorde.
2003 hat die Sterbehilfe-Organisation Dignitas rund 90 aus dem Ausland kommende Personen begleitet. Im Jahr 2000 waren es lediglich drei.
2005 hat die Sterbehilfe-Organisation Exit 162 Personen in den Tod begleitet, gegenüber rund 30 zu Beginn der 90er-Jahre.

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